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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0349
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 323

mäße“ zu bezeichnen, weil sie „aus der Reaction gegen die Zeit hervorgegan-
gen“ seien (ebd., 148). Dieser Einschätzung Hillebrands hält Elisabeth Förster-
Nietzsche selbst am Ende ihres Kapitels zu UBII HL im Sinne eines Fazits zur
Rezeptionslage dann allerdings die Überzeugung entgegen, „daß diese zweite
Betrachtung von der historischen Krankheit4 (dies war ihr ursprünglicher, lei-
der unterdrückter Titel) in den siebziger Jahren unzeitgemäß gewesen sein
muß, da sie erst jetzt zu ihrer wahren Geltung kommt: die Kritik von heutzuta-
ge mißt ihr von allen vier Unzeitgemäßen Betrachtungen4 den höchsten Werth
bei“ (ebd., 148). Eine ausgeprägte Tendenz zu nachträglicher Stilisierung des
Bruders, die der tatsächlichen Rezeption seiner ersten drei Schriften (GT,
UB I DS, UB II HL) durch die Zeitgenossen keineswegs entspricht, findet zuvor
schon in ihrer erstaunlichen Behauptung Ausdruck, „bewundernde Zuschrif-
ten“, die sich „auf alle drei bis dahin erschienenen Schriften“ bezogen, hätten
damals bereits zu erkennen gegeben, daß man „in ihm allmählich den Apostel
einer neuen noch nicht bestimmt formulirten Anschauungsweise“ sah (ebd.,
142-143). Angeblich hatte sie selbst ihrem Bruder in einem Gespräch über die
kurz nach UB II HL erschienene UB III SE schon prophezeit: „Eines weiß ich
genau, daß Du der darin geschilderte erziehende Philosoph bist [...] oder sein
wirst“ (ebd., 159). Bezeichnenderweise zitiert sie danach auch N.s spätere
Selbstdeutung in Ecce homo, in UB III SE komme „Nietzsche als Erzieher“ zu
Wort (KSA 6, 320, 30), mit ihrem Kontext (vgl. KSA 6, 319, 19 - 321, 6; vgl.
Förster-Nietzsche 1897, Bd. II/l, 166-168).
Der Soziologe Ferdinand Tönnies, der Autor des bekannten Werks Ge-
meinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialis-
mus als empirischer Culturformen (1887), fühlte sich von der Schlusspassage
der Historienschrift besonders angesprochen, in der sich N. mit einem empha-
tischen Appell an eine „Gesellschaft der Hoffenden“ wendet (332,16). Das geht
aus dem emotionalen Bekenntnis hervor: „Ich kaufte sie und war tief bewegt“
(Tönnies 1922, 204). Wie sehr sich Tönnies für N. und für die Rezeption seiner
Werke interessierte, erhellt auch aus seiner noch zu Lebzeiten N.s veröffent-
lichten Schrift Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik (1897). Hier differenziert Tön-
nies zwischen drei Phasen von N.s Schaffen, die er durch einen Konflikt zwi-
schen seiner künstlerischen und wissenschaftlichen Komponente bestimmt
sieht: Während in der frühen Schaffensperiode N.s noch die künstlerische Seite
überwogen habe, sei die zweite Werkphase, in der die Unzeitgemässen Betrach-
tungen und Die fröhliche Wissenschaft entstanden, durch die Perspektive des
Wissenschaftlers dominiert. Und die dritte Phase, der Tönnies die Werke Also
sprach Zarathustra und Jenseits von Gut und Böse zuordnet, offenbare schließ-
lich die verzweifelte Situation N.s nach der Aufgabe seiner künstlerischen und
wissenschaftlichen Identität. Von Tönnies stammt übrigens auch der Terminus
 
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