324 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
Voluntarismus4, der als Bezeichnung für die philosophischen Konzeptionen
Schopenhauers und N.s verwendet wird.
Lou Andreas-Salome charakterisiert in ihrem sechs Jahre vor N.s Tod er-
schienenen Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894) UB II HL als eine
„höchst wertvolle Schrift“, deren „Grundgedanke in Nietzsches letzten Werken
[...] wiederkehrt“; dabei fasst sie ,Historie4 allgemein als „den Begriff des Ge-
dankenlebens [...] im Gegensatz zum Instinktleben“ (Andreas-Salome 1894,
63). Von N.s persönlicher Situation ausgehend, deutet sie die in UB II HL von
ihm diagnostizierte „Dekadenzgefahr“ wesentlich als „Schilderung seines eige-
nen Seelenzustandes“, also der durch den „steten Andrang überwältigender
Erkenntnisse und Gedankenströmungen“ verursachten „Qual“, die er projektiv
„zur allgemeinen Gefahr des ganzen Zeitalters“ erklärt habe (ebd., 64), ohne
dabei auch die charakteristischen Differenzen angemessen zu berücksichtigen.
Infolgedessen attestiere er seiner Epoche konträre Symptome: einerseits eine
„durch den erkältenden und lähmenden Einfluß einseitiger Verstandesbil-
dung“ bewirkte seelische „Verkümmerung“, andererseits „die allzu heftige,
aufreizende und aufrührerische Einwirkung des Gedanklichen auf das psychi-
sche Leben“, die einen Konflikt „wilder Triebkräfte“ zur Folge habe: eine für
„Spätlinge“ typische „Instinkt-Widersprüchlichkeit“ (ebd., 64-65).
Lou Andreas-Salome sieht die von N. in UB II HL charakterisierten drei Ar-
ten der Historie mit den jeweiligen Spezifika seiner eigenen intellektuellen Ent-
wicklungsstadien verbunden: So komme „dem Philologen“ die „antiquarische“
Auffassung zu, während die Orientierung an großen Vorbildern der ,monumen-
talischen Historie4 entspreche (ebd., 67). N.s „spätere positivistische Periode“
nach den Unzeitgemässen Betrachtungen schließlich korrespondiere mit dem
Gestus der ,kritischen Historie4 (ebd., 68). Nach der Überwindung dieser drei
Stadien - so Lou Andreas-Salome - „verschmolzen ihm alle drei Standpunkte
zu einem einzigen“ (ebd., 68). Weil „die ihn quälende Instinktwidersprüchlich-
keit“ zugleich jedoch auch „die Mittel zu ihrer Bekämpfung enthalten“ habe,
konnte er „aus einem Mann der Zeit zu einem Spätling älterer Kulturen und
einem Erstling neuer Kultur werden“ (ebd., 68-69). - Im Hintergrund dieser
Überlegungen steht außer N.s Selbstcharakterisierung im Vorwort zu UB II HL
(vgl. 246, 3 - 247, 11) seine Perspektive auf das Epigonen-Syndrom (vgl. 307,
17 - 308, 16; 311, 22-25; 312, 29; 333, 6-26). Mitzudenken ist zugleich sein spä-
terer Anspruch auf Autonomie durch eine „grosse Loslösung“, die gemäß
Menschliches, Allzumenschliches den „Typus ,freier Geist4“ zur Entfaltung brin-
gen soll (KSA 2, 15, TI - 16, 10); der philosophische Paradigmenwechsel in N.s
positivistischer Neuorientierung ist dabei von einem entschiedenen „Willen zur
Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung“ getragen (KSA 2,16, 34 - 17,1). - Lou
Andreas-Salome eröffnet zugleich einen weiteren Horizont, indem sie „die vier
Voluntarismus4, der als Bezeichnung für die philosophischen Konzeptionen
Schopenhauers und N.s verwendet wird.
Lou Andreas-Salome charakterisiert in ihrem sechs Jahre vor N.s Tod er-
schienenen Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894) UB II HL als eine
„höchst wertvolle Schrift“, deren „Grundgedanke in Nietzsches letzten Werken
[...] wiederkehrt“; dabei fasst sie ,Historie4 allgemein als „den Begriff des Ge-
dankenlebens [...] im Gegensatz zum Instinktleben“ (Andreas-Salome 1894,
63). Von N.s persönlicher Situation ausgehend, deutet sie die in UB II HL von
ihm diagnostizierte „Dekadenzgefahr“ wesentlich als „Schilderung seines eige-
nen Seelenzustandes“, also der durch den „steten Andrang überwältigender
Erkenntnisse und Gedankenströmungen“ verursachten „Qual“, die er projektiv
„zur allgemeinen Gefahr des ganzen Zeitalters“ erklärt habe (ebd., 64), ohne
dabei auch die charakteristischen Differenzen angemessen zu berücksichtigen.
Infolgedessen attestiere er seiner Epoche konträre Symptome: einerseits eine
„durch den erkältenden und lähmenden Einfluß einseitiger Verstandesbil-
dung“ bewirkte seelische „Verkümmerung“, andererseits „die allzu heftige,
aufreizende und aufrührerische Einwirkung des Gedanklichen auf das psychi-
sche Leben“, die einen Konflikt „wilder Triebkräfte“ zur Folge habe: eine für
„Spätlinge“ typische „Instinkt-Widersprüchlichkeit“ (ebd., 64-65).
Lou Andreas-Salome sieht die von N. in UB II HL charakterisierten drei Ar-
ten der Historie mit den jeweiligen Spezifika seiner eigenen intellektuellen Ent-
wicklungsstadien verbunden: So komme „dem Philologen“ die „antiquarische“
Auffassung zu, während die Orientierung an großen Vorbildern der ,monumen-
talischen Historie4 entspreche (ebd., 67). N.s „spätere positivistische Periode“
nach den Unzeitgemässen Betrachtungen schließlich korrespondiere mit dem
Gestus der ,kritischen Historie4 (ebd., 68). Nach der Überwindung dieser drei
Stadien - so Lou Andreas-Salome - „verschmolzen ihm alle drei Standpunkte
zu einem einzigen“ (ebd., 68). Weil „die ihn quälende Instinktwidersprüchlich-
keit“ zugleich jedoch auch „die Mittel zu ihrer Bekämpfung enthalten“ habe,
konnte er „aus einem Mann der Zeit zu einem Spätling älterer Kulturen und
einem Erstling neuer Kultur werden“ (ebd., 68-69). - Im Hintergrund dieser
Überlegungen steht außer N.s Selbstcharakterisierung im Vorwort zu UB II HL
(vgl. 246, 3 - 247, 11) seine Perspektive auf das Epigonen-Syndrom (vgl. 307,
17 - 308, 16; 311, 22-25; 312, 29; 333, 6-26). Mitzudenken ist zugleich sein spä-
terer Anspruch auf Autonomie durch eine „grosse Loslösung“, die gemäß
Menschliches, Allzumenschliches den „Typus ,freier Geist4“ zur Entfaltung brin-
gen soll (KSA 2, 15, TI - 16, 10); der philosophische Paradigmenwechsel in N.s
positivistischer Neuorientierung ist dabei von einem entschiedenen „Willen zur
Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung“ getragen (KSA 2,16, 34 - 17,1). - Lou
Andreas-Salome eröffnet zugleich einen weiteren Horizont, indem sie „die vier