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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0357
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 331

ten N.-Vorlesung, die in seine Abhandlung über den aristokratischen Radika-
lismus4 N.s Eingang fand. Brandes plädiert hier für eine Erziehung gegen „den
Zeitgeist“ und spricht sich für die ,Züchtung4 von „Geistesaristokraten44 aus
(Brandes 1888, nach der Transkription der Vorlesung übersetzt von Benne 2012,
414). Die folgende Textpassage aus der Vorlesung von Georg Brandes lässt
(nach den Statements der Anfangspartie) die impliziten Affinitäten zu UB II HL
deutlich erkennen (ebd., 414):
„Die Zeit der nationalen Kulturen ist bald abgelaufen. [...] Die fortschrittlichen Menschen
aller Länder empfinden sich bereits jetzt als Europäer, als Landsleute, ja als Verbündete.
Schon das nächste Jahrhundert muss den Kampf um die Erdherrschaft bringen. Als Ergeb-
nis dieses Kriegs wird ein gewaltiger Orkan alle nationalen Eitelkeiten hinwegfegen. [...]
Kommt diese Zeit, gilt es für die hervorragenden Geister, eine Kaste hervorragender Geis-
tesaristokraten zu züchten und zu erziehen, die die Macht in Zentraleuropa und damit
überall ergreifen können. [...] Der große Mann ist nicht das Kind seiner Zeit, sondern ihr
Stifter. Was wir von dem Erzieher, den wir suchen, lernen müssen, ist uns selbst gegen
die Zeit und den Zeitgeist zu erziehen. [...] Wann herrscht Kulturzustand? Wenn die
Menschheit in einer Gesellschaft immer weiter daran arbeitet, einzelne große Menschen
zu erzeugen. Es gibt keinen höheren Zweck. [...] In der Steigerung der Kultur wird die
Persönlichkeit indirekt auch am meisten für das Wohl der Vielen getan haben, am meis-
ten nämlich dafür, dass ihr Leben wertvoller wird“.
Diese Perspektive unterscheidet sich allerdings insofern vom individualisti-
schen Geistesaristokratismus N.s, als Brandes hier - anders als N. - eine Ver-
söhnung von geistesaristokratischen Konzepten mit den Prinzipien eines hedo-
nistischen Utilitarismus (etwa im Sinne von Jeremy Bentham oder John Stuart
Mill) anzustreben scheint. Zu diesem Spannungsfeld (auch unter Rekurs auf
Mills Schrift Utilitarianism von 1861) vgl. NK 299, 3-9. Brandes hebt sogar aus-
drücklich die positiven Auswirkungen des praktizierten Geistesaristokratismus
auf „das Wohl der Vielen“ hervor (ebd., 414). Allerdings vollzieht er in der
vierten seiner N.-Vorlesungen eine Abkehr von sozialutilitaristischen Maximen
zugunsten der Machtprinzipien von Führerfiguren, indem er die Prognose „Cä-
sars Zeit wird kommen“ mit der Vorstellung „der höchsten Machtfülle“ verbin-
det (vgl. die Brandes-Übersetzung von Benne 2012, 414).
In seinem Buch Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen
Radikalismus referiert Brandes ausführlich den Gehalt von UB II HL (Brandes
2004, 46-55), verbindet seine Darstellung aber auch mit einigen Kritikpunkten.
So hinterfragt Brandes die gesamtgesellschaftliche Relevanz von N.s Historis-
mus-Kritik, indem er bezweifelt, dass die Majorität der Bevölkerung „unter ei-
nem Übermaß von historischer Bildung leiden“ könnte; zudem bezweifelt er
auch für die Kulturschaffenden im engeren Sinne, sofern deren Kreativität
durch das historische Syndrom erlahmen würde, dass sie „die Welt“ durch
 
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