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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0371
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 345

Basis dieser Gegenüberstellung charakterisiert er die vitale Prozessualität des
Historischen folgendermaßen: „Das wirkliche Leben, die Geschichte kennt nur
Tatsachen“ (ebd., 569). Vor diesem Hintergrund konstatiert Spengler anschlie-
ßend: „Es ist eine der gewaltigsten Leistungen Nietzsches, das Problem vom
Werte der Wahrheit, des Wissens, der Wissenschaft aufgestellt zu haben“ (ebd.,
569). Damit bezieht er sich auf kritische Überlegungen, die sich sowohl in N.s
UBII HL als auch in seiner nachgelassenen Frühschrift Ueber Wahrheit und
Lüge im aussermoralischen Sinne finden.
In einer früheren Textpartie seines Hauptwerks Der Untergang des Abend-
landes hebt Spengler im „geschichtlichen Horizont Nietzsches“ auch seinen
Begriff „der Dekadenz“ hervor (ebd., 32). Allerdings meint er sein eigenes Kon-
zept, das auf „die ,kopernikanische‘ Gestalt des Weltgeschehens“ zielt, vom
„harmlosen Relativismus Nietzsches und seiner Generation“ abgrenzen zu
müssen, um „die Weltgeschichte, die Welt als Geschichte“, zu verstehen (ebd.,
34). Aufgrund einer vorschnellen Übertragung „des Kausalprinzips aus der Na-
turwissenschaft in die Geschichtsforschung“ sei es „Nietzsche und Mommsen“
nämlich versagt geblieben, „die Höhe der Betrachtung“ zu erreichen, die
Spengler für seine eigene universalhistorische Kulturmorphologie beansprucht
(ebd., 39). Die Fokussierung auf den ,,Wille[n] zur Macht [...] als Wille zum
Leben, als Lebenskraft“ bezeichnet Spengler als „eigenstes Thema“ der „wirkli-
che [n] Philosophie des 19. Jahrhunderts“ (ebd., 479). Damit spielt er sowohl
auf N.s als auch auf Schopenhauers philosophische Konzepte an. Spengler be-
tont seine eigene Nähe zur Lebensphilosophie, die er in seinem Werk Der Un-
tergang des Abendlandes wiederholt signalisiert, auch dadurch, dass er tenden-
ziöse Polarisierungen entwirft: „Der Wille zum System ist der Wille, Lebendiges
zu töten. [...] Wahrheiten sind leblos und lassen sich mitteilen, Ideen gehören
zum lebendigen Selbst ihres Urhebers und können nur mitgefühlt werden“
(ebd., 570). Hier scheint Spengler auf N.s Diktum in der Götzen-Dämmerung
anzuspielen: „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit“
(KSA 6, 63, 9). Vor allem aber lässt sich hier eine markante Affinität zu N.s
Aussage in UB II HL feststellen: „Ein historisches Phänomen, rein und voll-
ständig erkannt und in ein Erkenntnissphänomen aufgelöst, ist für den, der es
erkannt hat, todt“ (257, 10-12). Vgl. dazu auch die Analyse zu Musils Kritik am
vitalistischen Antirationalismus von Oswald Spenglers Kulturmorphologie in
Neymeyr 2009c, 189-216.
Am 15. Oktober 1924 hielt Spengler aus Anlass von N.s 80. Geburtstag im
Weimarer N.-Archiv den Vortrag Nietzsche und sein Jahrhundert, in dem er mit
programmatischem Nachdruck konstatiert: „Nietzsches Werk ist kein Stück
Vergangenheit, das man genießt, sondern eine Aufgabe, die dienstbar macht.
Sie hängt heute weder von seinen Schriften noch von deren Stoffen ab, und
 
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