344 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
1081, 1348, 1368-1375), markante Übereinstimmungen mit einem Nachlass-No-
tat N.s aus dem Jahr 1883 auf: „Der Mensch ist etwas Flüssiges und Bildsames -
man kann aus ihm machen, was man will“ (NL 1883, 15 [9], KSA 10, 481). Be-
zeichnenderweise zählt Musil zu den „größten Begabungen“ ausdrücklich die-
jenige „Nietzsches“ (Musil 1978, Bd. II, 1376). Und wenn er „Nietzsche“ zu den
„einflußreichsten“ unter den „Persönlichkeiten“ rechnet, die zugleich auf viel-
fältige Weise ideologische „Mischungen“ repräsentieren (ebd., 1355), dann ver-
weist er dadurch erneut auf die kulturkritische Diagnose einer heterogenen
Moderne, die - Jahrzehnte vor Musil - bereits N. in seiner Historienschrift voll-
zogen hatte. Zur Denkmal-Kultur bei N. und Musil vgl. NK 266, 2-6.
Das Jahr 1918 markiert eine Zäsur für die Historismus-Debatte sowie für die
Auseinandersetzung mit einem für das ,Leben4 schädlichen Primat des Erken-
nens4 und der Wissenschaft4. Mit seinem Hauptwerk Der Untergang des Abend-
landes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918) knüpft Oswald
Spengler an die antirationalistischen Tendenzen N.s und seine kulturkritische
Decadence-Diagnose in UB II HL an, indem er mit einer Vielzahl interkulturel-
ler Parallelen sein spekulatives Konzept einer Universalhistorie entwirft. Im
Vorwort von 1922 nennt Spengler diejenigen, „denen ich so gut wie alles ver-
danke: Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche
die Fragestellungen“ (Spengler: Der Untergang des Abendlandes, 7. Aufl. 1983,
IX). In seinem epochenübergreifenden geschichtsphilosophischen Panorama
vergleicht Spengler acht Kulturen und schreibt ihnen eine analoge Entwick-
lungsdynamik zu, die er jeweils nach Phasen der Blüte in zivilisatorische Ver-
fallsstadien münden sieht. Zwar lässt dieser Entwurf, in dem Spengler Goethes
naturmorphologischen Ansatz auf die Kultur zu übertragen sucht, Affinitäten
zu N.s Decadence-Konzept erkennen. Aber durch den Anspruch, historische
Entwicklungen sogar prognostizieren zu können, unterscheidet sich Spenglers
Perspektive zugleich grundlegend von N.s prinzipiellen Vorbehalten gegenüber
teleologischen Geschichtsdeutungen in UB II HL. In dieser Hinsicht ist Speng-
ler durch Hegel beeinflusst, von dem sich N. in seiner Historienschrift mit
Nachdruck abgrenzt.
Aufgrund seiner lebensphilosophischen Prämissen tendiert Spengler zum
Antirationalismus. Er bezeichnet „kaltes, abstraktes Nachdenken“ und „bloße
Wahrheiten“ als lebensfern, weil Wahrheiten „festgestellt“, mithin „aus der
lebendigen Unfaßlichkeit [...] in der Form von Begriffen abgezogen“ (also abs-
trahiert) und in ein „System“ gebracht werden, so dass sie als „absolut und
ewig“ dann „mit dem Leben nichts mehr zu tun“ haben (ebd., 569). Demgegen-
über betont Spengler selbst die Differenz zwischen Wahrheiten und Tatsachen:
„Ein System besteht aus Wahrheiten, eine Geschichte beruht auf Tatsachen.
Tatsachen folgen aufeinander, Wahrheiten auseinander“ (ebd., 206). Auf der
1081, 1348, 1368-1375), markante Übereinstimmungen mit einem Nachlass-No-
tat N.s aus dem Jahr 1883 auf: „Der Mensch ist etwas Flüssiges und Bildsames -
man kann aus ihm machen, was man will“ (NL 1883, 15 [9], KSA 10, 481). Be-
zeichnenderweise zählt Musil zu den „größten Begabungen“ ausdrücklich die-
jenige „Nietzsches“ (Musil 1978, Bd. II, 1376). Und wenn er „Nietzsche“ zu den
„einflußreichsten“ unter den „Persönlichkeiten“ rechnet, die zugleich auf viel-
fältige Weise ideologische „Mischungen“ repräsentieren (ebd., 1355), dann ver-
weist er dadurch erneut auf die kulturkritische Diagnose einer heterogenen
Moderne, die - Jahrzehnte vor Musil - bereits N. in seiner Historienschrift voll-
zogen hatte. Zur Denkmal-Kultur bei N. und Musil vgl. NK 266, 2-6.
Das Jahr 1918 markiert eine Zäsur für die Historismus-Debatte sowie für die
Auseinandersetzung mit einem für das ,Leben4 schädlichen Primat des Erken-
nens4 und der Wissenschaft4. Mit seinem Hauptwerk Der Untergang des Abend-
landes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918) knüpft Oswald
Spengler an die antirationalistischen Tendenzen N.s und seine kulturkritische
Decadence-Diagnose in UB II HL an, indem er mit einer Vielzahl interkulturel-
ler Parallelen sein spekulatives Konzept einer Universalhistorie entwirft. Im
Vorwort von 1922 nennt Spengler diejenigen, „denen ich so gut wie alles ver-
danke: Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche
die Fragestellungen“ (Spengler: Der Untergang des Abendlandes, 7. Aufl. 1983,
IX). In seinem epochenübergreifenden geschichtsphilosophischen Panorama
vergleicht Spengler acht Kulturen und schreibt ihnen eine analoge Entwick-
lungsdynamik zu, die er jeweils nach Phasen der Blüte in zivilisatorische Ver-
fallsstadien münden sieht. Zwar lässt dieser Entwurf, in dem Spengler Goethes
naturmorphologischen Ansatz auf die Kultur zu übertragen sucht, Affinitäten
zu N.s Decadence-Konzept erkennen. Aber durch den Anspruch, historische
Entwicklungen sogar prognostizieren zu können, unterscheidet sich Spenglers
Perspektive zugleich grundlegend von N.s prinzipiellen Vorbehalten gegenüber
teleologischen Geschichtsdeutungen in UB II HL. In dieser Hinsicht ist Speng-
ler durch Hegel beeinflusst, von dem sich N. in seiner Historienschrift mit
Nachdruck abgrenzt.
Aufgrund seiner lebensphilosophischen Prämissen tendiert Spengler zum
Antirationalismus. Er bezeichnet „kaltes, abstraktes Nachdenken“ und „bloße
Wahrheiten“ als lebensfern, weil Wahrheiten „festgestellt“, mithin „aus der
lebendigen Unfaßlichkeit [...] in der Form von Begriffen abgezogen“ (also abs-
trahiert) und in ein „System“ gebracht werden, so dass sie als „absolut und
ewig“ dann „mit dem Leben nichts mehr zu tun“ haben (ebd., 569). Demgegen-
über betont Spengler selbst die Differenz zwischen Wahrheiten und Tatsachen:
„Ein System besteht aus Wahrheiten, eine Geschichte beruht auf Tatsachen.
Tatsachen folgen aufeinander, Wahrheiten auseinander“ (ebd., 206). Auf der