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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0384
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358 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

wußt“ (ebd., 119). Auf dieser Basis entfaltet Jaspers dann die folgende Synthese-
Perspektive: „Aus diesem geschichtlichen Ursprung wird auch das Historische
erst eigentlich geschichtlich“ (ebd., 119). Hier dominiert der existentielle Be-
zug - in Analogie zu N.s Überzeugung vom Primat des Lebens, dem das Histo-
rische letztlich unterzuordnen sei.
Ähnliche Grundtendenzen sind in Karl Jaspers’ Buch Nietzsche. Einführung
in das Verständnis seines Philosophierens (1936) zu erkennen (Jaspers 1936,
3. Aufl. 1950). Im zweiten Teil mit dem Titel „Nietzsches Grundgedanken“ (ebd.,
119-374) wendet sich Jaspers auch der Historienschrift N.s zu, und zwar in den
Kapiteln „Gestalten, in denen Nietzsche die Geschichte anschaut“ (ebd., 236-
240) und „Die Lebensbedeutung des historischen Bewußtseins“ (ebd., 240-
244). Hier referiert und reflektiert Jaspers Gedankengänge aus UBII HL. Seine
Orientierung an N.s Historienschrift geht schon aus den Zwischentiteln der drei
Abschnitte „Gegen die Grundirrtümer der historischen Wissenschaft“ sowie
„Gegen die lebenszerstörende Wirkung der Historie“ und „Für die echte Ge-
schichtlichkeit“ (ebd., 241-244) hervor. Nachdem Jaspers die Differenzierung
zwischen den drei Arten der Historie gemäß UB II HL paraphrasiert hat (ebd.,
240-241), betont er N.s Skepsis im Hinblick auf „die gesamte historische Wis-
senschaft“ (ebd., 241). Zugleich antizipiert Jaspers dabei Memoria-Konzepte,
die in kulturwissenschaftlichen Debatten seit dem 20. Jahrhundert Bedeutung
erlangt haben und bis in die Gegenwart aktuell geblieben sind. So hebt er die
Möglichkeit der Transformation und Revitalisierung von Vergangenem im Lau-
fe der Kulturgeschichte hervor, indem er feststellt: „Historie ist nicht ein zeitlos
gültiges Wissen von einem unveränderlichen, abgeschlossenen Tatbestand,
sondern die Historie als Wissen verändert sich mit der Geschichte als wirk-
lichem Geschehen: nichts Vergangenes ist endgültig tot; es lebt, wenn es
echter Ursprung war, in unübersehbaren Verwandlungen aus neuer Gegenwart
fort, wird vergessen und wieder ergriffen, wird entdeckt, obgleich es schon
bekannt schien, wird neuer Antrieb, wenn es schon als gleichgültig behandelt
wurde. In dieser wahren Geschichte als lebendig zeugendem Wissen wird nie-
mals endgültig gewußt, wie es eigentlich gewesen ist“ (ebd., 241). Implizit
greift Jaspers hier auf ein programmatisches Notat N.s aus dem Jahr 1883 zu-
rück, das er wenig später auch selbst zitiert (vgl. ebd., 244): „Die Vergangen-
heit befruchten und die Zukunft zeugen - das sei mir Gegenwart!“ (NL 1883,
16 [88], KSA 10, 531).
Aus seinen Vorüberlegungen leitet Jaspers im Nietzsche-Buch ambivalente
Perspektiven auf den Wissenschaftscharakter der Geschichte ab: „Darum kann
echte Historie einerseits niemals reine Wissenschaft werden; andererseits kann
sie nie ohne exakte Forschung wahrhaftig bleiben. [...] Insbesondere ist ein
Tot al wissen von irgendeinem Vergangenen nicht möglich“, und zwar nicht
 
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