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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0385
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 359

bloß wegen der unüberschaubaren Unendlichkeit historischer Materialien
selbst, sondern „wegen der unendlichen Möglichkeit jeder lebendigen Exis-
tenz, die sich erst dem sich selbst in seiner Welt hervorbringenden Erinnern
erschließt“ (Jaspers 1950, 241). In diesem Zusammenhang beruft sich Jaspers
ausdrücklich auf N.s Konzept des ,Unhistorischen4 in UB II HL: „Ein vermeintli-
ches Totalwissen würde eine Zerstörung des echten aneignenden Erinnerungs-
prozesses durch ein wissenschaftlich unrichtiges und existentiell unwahres
Scheinwissen sein. Gegen dieses ruft Nietzsche das gegenwärtige Leben, ,das
Unhistorische4 auf“ (ebd., 241-242). Jaspers nimmt dann allerdings selbst eine
Differenzierung vor, mit der er sich auch von N. abgrenzt: Denn seines Erach-
tens lässt N. „scheinbar das Unhistorische, das wie das tierische Dasein ein
brutales Gleichgültigwerden im Nichtwissen und bloßen Vergessen ist, mit
demjenigen Unhistorischen zusammenfließen, das eigentlich menschlich, das
ursprüngliche Sein in der Gegenwart und damit schon Keim geschichtlichen
Sehens ist“ (ebd., 242).
Unter Einbeziehung von Nachlass-Belegen betont Jaspers „Nietzsches
Zorn“ gegen „die wissenschaftsgewissen Historiker“ (ebd., 242), deren Mentali-
tät N. in einem nachgelassenen Notat so charakterisiert: „die Geschichte als
der Hohn der Sieger; servile Gesinnung und Devotion vor dem Faktum — [...]
Wer nicht begreift, wie brutal und sinnlos die Geschichte ist, der wird auch
den Antrieb gar nicht verstehn die Geschichte sinnvoll zu machen“ (NL 1875,
5 [58], KSA 8, 57). In der von Jaspers zitierten Aussage wendet sich N. selbst
entschieden gegen den vermutlich von „Hegel“ verschuldeten „historischen
Optimismus“ (NL 1875, 5 [58], KSA 8, 57), mithin gegen eine Präferenz dafür,
„Geschichte [...] vom Standpuncte des Erfolges“ zu schreiben (NL 1875, 5 [58],
KSA 8, 56). Und in einem nachgelassenen Notat mit dem Titel „Der Tod der
alten Cultur“ konstatiert N.: „So ist die Aufgabe der Wissenschaft der Ge-
schichte gelöst, und sie selber ist überflüssig geworden: wenn der ganze
innerlich zusammenhängende Kreis vergangner Bestrebungen verurtheilt
worden ist. An ihre Stelle muss die Wissenschaft um die Zukunft treten“
(NL 1875, 5 [158], KSA 8, 84). Mehrere Textbelege aus N.s nachgelassenen Nota-
ten zitiert Jaspers, um sie mit UB II HL zu vermitteln (vgl. Jaspers 1950, 242-
244). Einerseits bezieht er sich dabei affirmativ auf N.s Auffassung in UB II HL,
die Übermacht des Historischen bewirke eine Schwächung von Instinkt und
Persönlichkeit sowie die Illusion historischer Objektivität und ein epigonales
Selbstgefühl (vgl. ebd., 242). Andererseits jedoch betont Jaspers zukunftswei-
sende Aspekte: „Aber das Übergewicht haben die positiven Bewertun-
gen des eigentlich Historischen durch Nietzsche. Er entwickelt die Möglichkeit
des historischen Sinns in unserem Zeitalter“ (ebd., 243).
In seinem späteren Werk Vom Ursprung und Ziel der Geschichte schließt
Jaspers an solche Perspektiven an: „Nietzsche entwirft das Bild des Zeitalters
 
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