360 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
und der Zukunft“, und zwar im Sinne einer durch „Nivellierung“ gekennzeich-
neten Massengesellschaft (Jaspers 1949, 3. Aufl. 1952, 183). Bei „Kierkegaard
und Nietzsche“ erreiche „das Krisenbewußtsein seinen Höhepunkt“ (ebd.,
288). Jaspers hofft, dass „der schmerzvolle Rückschlag des Nihilismus“ eine
Befreiung „zu neuem ursprünglichen Denken“ ermöglichen wird - in einer
Epoche, „die in Epigonen und Historikern ihren Abschied nimmt“ und dabei
sogar ein „Ende der Geschichte“ suggeriert (ebd., 329). Vom „Strom des bloßen
Geschehens“ unterscheidet Jaspers in diesem Buch die Singularität des „ei-
gentlich Geschichtliche[n]“, das er als „Überlieferung durch Autorität“ be-
schreibt und mit der „Kontinuität durch erinnernden Bezug auf das Vergange-
ne“ verbunden sieht: „Es ist Erscheinungsverwandlung in bewußt vollzogenen
Sinnzusammenhängen“ (ebd., 289), und zwar auf der Basis einer spezifischen
Differenz gegenüber „Natur“ und „Kosmos“ (ebd., 291). Historizität beschreibt
Jaspers daher als Spezifikum des Menschen: „Um Geschichte zu sein, muß das
Individuum einmalig, unersetzlich, einzig sein“; und diese existenzphilosophi-
sche Perspektive erläutert er so: „Der Mensch ist noch nicht als Naturwesen,
sondern erst als geistiges Wesen Geschichte“ (ebd., 299), in der „Geschehen
und Selbstbewußtsein dieses Geschehens“ koinzidieren (ebd., 290).
Nach Jaspers’ Überzeugung steigert gerade das Bewusstsein der „Abgrün-
de“ einer „endlosen Zerstreutheit“, nämlich der in der Geschichte „erscheinen-
den Realität in ihrem verschwindenden Übergangsein“, den „Sinn für das ei-
gentlich Geschichtliche“ (ebd., 291). In diesem Zusammenhang verschaffe „ein
erinnerndes Wissen um die Gesamtgeschichte [...] unserem Bewußtsein jeweils
den Horizont“ (ebd., 329). Allerdings müsse „jede Konstruktion eines Totalbil-
des“ dabei „empirisch bewährt sein“ (ebd., 330). Affinitäten zu UBII HL weist
Jaspers’ Geschichtskonzept in diesem Buch nicht nur durch Überlegungen zu
,Horizont4 und ,Konstruktion4 auf. Darüber hinaus ergeben sich insofern Kor-
respondenzen, als auch Jaspers im Sinne von N.s Historismus-Kritik den „end-
losen Stoff historischen Wissens“ problematisiert und aus der „Wahllosigkeit“
ihm gegenüber „ein ästhetisches Verhalten“ folgen sieht, dem „alles“ zur „Be-
friedigung der Neugier“ geeignet zu sein scheint (ebd., 331). Laut Jaspers hat
der „wissenschaftliche“ wie der „ästhetische Historismus“ letztlich „Beliebig-
keit“ und Entwertung zur Folge. Auch in dieser Hinsicht lassen sich implizite
Bezüge zu N.s Historismus-Kritik in UB II HL feststellen.
Martin Heidegger äußert sich in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927)
zustimmend über N.s UB II HL und seine drei Arten der Historie, indem er er-
klärt: „Nietzsche hat das Wesentliche über ,Nutzen und Nachteil der Historie
für das Leben4 [...] erkannt und eindeutig-eindringlich gesagt“, allerdings
„ohne die Notwendigkeit dieser Dreiheit und den Grund ihrer Einheit aus-
drücklich aufzuweisen“ (Heidegger, 15. Aufl. 1979, 396). Die Problematik der
und der Zukunft“, und zwar im Sinne einer durch „Nivellierung“ gekennzeich-
neten Massengesellschaft (Jaspers 1949, 3. Aufl. 1952, 183). Bei „Kierkegaard
und Nietzsche“ erreiche „das Krisenbewußtsein seinen Höhepunkt“ (ebd.,
288). Jaspers hofft, dass „der schmerzvolle Rückschlag des Nihilismus“ eine
Befreiung „zu neuem ursprünglichen Denken“ ermöglichen wird - in einer
Epoche, „die in Epigonen und Historikern ihren Abschied nimmt“ und dabei
sogar ein „Ende der Geschichte“ suggeriert (ebd., 329). Vom „Strom des bloßen
Geschehens“ unterscheidet Jaspers in diesem Buch die Singularität des „ei-
gentlich Geschichtliche[n]“, das er als „Überlieferung durch Autorität“ be-
schreibt und mit der „Kontinuität durch erinnernden Bezug auf das Vergange-
ne“ verbunden sieht: „Es ist Erscheinungsverwandlung in bewußt vollzogenen
Sinnzusammenhängen“ (ebd., 289), und zwar auf der Basis einer spezifischen
Differenz gegenüber „Natur“ und „Kosmos“ (ebd., 291). Historizität beschreibt
Jaspers daher als Spezifikum des Menschen: „Um Geschichte zu sein, muß das
Individuum einmalig, unersetzlich, einzig sein“; und diese existenzphilosophi-
sche Perspektive erläutert er so: „Der Mensch ist noch nicht als Naturwesen,
sondern erst als geistiges Wesen Geschichte“ (ebd., 299), in der „Geschehen
und Selbstbewußtsein dieses Geschehens“ koinzidieren (ebd., 290).
Nach Jaspers’ Überzeugung steigert gerade das Bewusstsein der „Abgrün-
de“ einer „endlosen Zerstreutheit“, nämlich der in der Geschichte „erscheinen-
den Realität in ihrem verschwindenden Übergangsein“, den „Sinn für das ei-
gentlich Geschichtliche“ (ebd., 291). In diesem Zusammenhang verschaffe „ein
erinnerndes Wissen um die Gesamtgeschichte [...] unserem Bewußtsein jeweils
den Horizont“ (ebd., 329). Allerdings müsse „jede Konstruktion eines Totalbil-
des“ dabei „empirisch bewährt sein“ (ebd., 330). Affinitäten zu UBII HL weist
Jaspers’ Geschichtskonzept in diesem Buch nicht nur durch Überlegungen zu
,Horizont4 und ,Konstruktion4 auf. Darüber hinaus ergeben sich insofern Kor-
respondenzen, als auch Jaspers im Sinne von N.s Historismus-Kritik den „end-
losen Stoff historischen Wissens“ problematisiert und aus der „Wahllosigkeit“
ihm gegenüber „ein ästhetisches Verhalten“ folgen sieht, dem „alles“ zur „Be-
friedigung der Neugier“ geeignet zu sein scheint (ebd., 331). Laut Jaspers hat
der „wissenschaftliche“ wie der „ästhetische Historismus“ letztlich „Beliebig-
keit“ und Entwertung zur Folge. Auch in dieser Hinsicht lassen sich implizite
Bezüge zu N.s Historismus-Kritik in UB II HL feststellen.
Martin Heidegger äußert sich in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927)
zustimmend über N.s UB II HL und seine drei Arten der Historie, indem er er-
klärt: „Nietzsche hat das Wesentliche über ,Nutzen und Nachteil der Historie
für das Leben4 [...] erkannt und eindeutig-eindringlich gesagt“, allerdings
„ohne die Notwendigkeit dieser Dreiheit und den Grund ihrer Einheit aus-
drücklich aufzuweisen“ (Heidegger, 15. Aufl. 1979, 396). Die Problematik der