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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0396
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370 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

terisiert Löwith als „heroischen ,Futurismus“4 (Löwith 1936, 38). Allerdings ver-
sieht er den emphatischen Appell an die Jugend in UB II HL 6 zugleich mit
einem kritischen Akzent: „Mit diesem heroischen ,Futurismus4 hat Nietzsche
der Gegenwart und ihrem Überdruß am Historismus im voraus das gute Gewis-
sen zu jedem beliebigen ,Umschreiben4 der Geschichte gegeben und dazu die
Illusion: schon ohne weiteres über die ,höchsten4 und ,edelsten4 Kräfte der Ge-
genwart zu verfügen - nur weil man in diesem ,Reich der Jugend4 vieles nicht
mehr für wissenswert und bewahrenswert hält44 (ebd., 38). Allerdings attestiert
Löwith N.s UB II HL an späterer Stelle: „Seine unzeitgemäße Betrachtung ist in
Wirklichkeit eine der Zeit gemäße Ermahnung zum geschichtlichen Handeln44
(ebd., 51).
Ein Jahr zuvor vollzieht der Skeptiker und Agnostiker Karl Löwith in sei-
nem Buch Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935)
eine kritische Auseinandersetzung mit neuzeitlicher Metaphysik und christli-
chen Heilsvorstellungen; dabei geht er auf die Entstehung geschichtsphiloso-
phischer Konzepte im Säkularisierungsprozess ein. Wie später auch im Burck-
hardt-Buch (vgl. ebd., 41-46) sieht er bereits hier mehrere Konzepte aus
UB II HL in Also sprach Zarathustra prolongiert (vgl. Löwith 1956, 135-141). So
entfalte sich die „volle Bedeutung des Vergessenkönnens [...] erst in den Reden
Zarathustras44 (ebd., 137). Während N. dort eine „Erlösung durch eine göttliche
Kunst des Vergessens44 exponiere, gehe es in UB II HL zunächst „nur um die
Befreiung von einem lebensschädlichen Wissen44, und zwar mit dem Ziel, eine
Balance von Erinnern und Vergessen herzustellen (ebd., 138). Später erreiche
„unhistorisches Leben44 für N. eine „positive Vollkommenheit44, und zwar durch
den „über-menschlichen Standpunkt Zarathustras44 (ebd., 137). Von diesem
„überhistorischen Standpunkt44 aus werde schließlich evident, dass „auch
Jahrhunderte weiteren Geschichtsverlaufs44 über „das Wesen der Welt und des
Menschen nichts wesentlich Neues lehren44 (ebd., 138-139). Auf dieser Basis
reflektiert Löwith zugleich das Moment des Perspektivischen: Die Erwartung,
dass der Geschichtsprozess als solcher „zu besseren Einsichten führt oder gar
das Problem der Geschichte zu lösen vermag, ist eine perspektivische Täu-
schung, wenn die Welt ,in jedem Augenblick fertig4, weil ohne Anfang und
Ende ist44 (ebd., 139). Durch diesen „überhistorische[n] Standpunkt44 sieht Lö-
with bereits das Konzept „der ewigen Wiederkehr des Gleichen44 antizipiert,
das N. später in Also sprach Zarathustra entfaltet (ebd., 139). Löwiths Fazit
lautet: „Erst als Lehrer der ewigen Wiederkehr wird Nietzsche aus einem un-
zeitgemäßen Kritiker seiner Zeit zu einem Philosophen, der seine Zeit über-
wand44 (ebd., 141).
Im „Anhang44 seines Buches versucht Löwith eine kritische Sondierung der
„Nietzsche-Deutung (1894-1954)44 (ebd., 199-225). Während er die „Umsicht
 
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