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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0397
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 371

und Reife der Charakterisierung“ im Nietzsche-Buch von Lou Andreas-Salome
würdigt (ebd., 200), sieht er in den „von Nietzsche und Kierkegaard“ beeinfluss-
ten Werken von Karl Jaspers dessen eigene existenzphilosophische Prämissen
wirksam (ebd., 219). Dabei setze hier auch die „Darstellung von Nietzsches
Selbstverständnis die Grundbegriffe von Jaspers’ Philosophieren“ voraus (ebd.,
219) - allerdings bloß im Sinne einer vagen „Geschichtlichkeit der Existenz“,
durch die Jaspers den „Sprengstoff in Nietzsches Philosophie“ unkenntlich ma-
che (ebd., 220-221). Nach Löwiths Ansicht deutet auf ähnliche Weise auch Hei-
degger „sein eigenes Denken in das von Nietzsche hinein, um sich in Nietzsche
auszulegen“ (ebd, 222). Von Jaspers’ Perspektive auf N. unterscheide sich Hei-
deggers Vorgehen allerdings fundamental, weil er den Sinn ,,einzelne[r] Sätze
und Grundworte“ bei N. ohne Berücksichtigung konträrer Aussagen „apodik-
tisch“ festlege (ebd, 222).
Schon die oben referierten Rezeptionszeugnisse lassen erkennen, dass die
Historienschrift N.s und der Historismus-Diskurs eine umfassende Wirkung
entfalteten, die weit über die Philosophie hinausreichte. Im Spektrum theologi-
scher Positionen zeichnen sich ebenfalls Kontroversen zwischen den historisti-
schen Strömungen und den von Feuerbach und N. ausgehenden antihistoristi-
schen Impulsen ab, die letztlich naturalistisch oder vitalistisch inspiriert
waren. So charakterisiert Adolf von Harnack das Christentum im Vorwort
(1903) zu seinem erstmals 1900 erschienenen Werk Das Wesen des Christen-
tums programmatisch als „eine geschichtliche Aufgabe, da es sich in dieser Reli-
gion um eine Verkündigung handelt, die sich geschichtlich vollzogen“ habe;
und deshalb gelte: „weder der Antiquar noch der Philosoph, noch der Schwär-
mer kann hier das letzte Wort haben, sondern der Historiker, weil es eine rein
historische Aufgabe ist, die wesentliche Eigentümlichkeit einer geschichtlichen
Erscheinung festzustellen“ (Harnack 1999, 46). - Auf der Basis der historischen
Bibelkritik von Autoren wie Ernest Renan und David Friedrich Strauß (vgl.
dazu NK 296, 30-34) plädierte zuvor bereits N. dafür, die kritische Geschichts-
betrachtung uneingeschränkt auf die Religion anzuwenden. In einem nachge-
lassenen Notat aus der Entstehungszeit der Historienschrift erklärt er sogar:
„Das Christenthum ist ganz der kritischen Historie preiszugeben“ (NL 1873, 29
[203], KSA 7, 711). Nach 1918 setzte sich allerdings die dialektische Theologie
von den Positionen der historischen Theologie ab.
Mit deutlichen Anklängen an Konzepte N.s, aber mit anderer Intention
schreibt Karl Barth in der Ersten Fassung (1919) seines Kommentars Der Rö-
merbrief: „Beim bloßen ,Interesse4 für das einmal Gewesene wird die Geschich-
te zu einem wirren Chaos sinnloser Beziehungen und Begebenheiten“ (Barth
1985, 143). Und im Vorwort zur Zweiten Fassung (1922) dieses Kommentars be-
tont er seine Suche nach der Essenz des Christentums jenseits geschichtlicher
 
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