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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0398
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372 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Prozesse: „meine ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, durch das Histo-
rische hindurchzusehen in den Geist der Bibel“, um „das Wort in den Wörtern“
zu suchen (Barth 2010 [Vorwort zur 1. Aufl.], 3; [Vorwort zur 2. Aufl.], 14). In
dieser Zweiten Fassung (1922) seines Kommentars Der Römerbrief hat Karl
Barth für einen Abschnitt des 4. Kapitels „Die Stimme der Geschichte“ sogar
den auf N.s UBII HL zurückgreifenden Titel „Vom Nutzen der Historie“ ge-
wählt. Hier zitiert Barth auf S. 192 (mit mehreren Auslassungen) ausführlich
aus N.s Historienschrift (252, 32 - 255, 2).
Affinitäten zur Bedeutung der Konstruktion in N.s Charakterisierung der
monumentalischen und kritischen Historie weist der Begriff,Konstruktion4 auf,
den Sigmund Freud für die Erschließung biographischer Zusammenhänge in
der Psychoanalyse gebraucht. N. plädiert in UB II HL für die Konstruktion von
Geschichte und beabsichtigt damit eine strategische Fiktion im Dienste des Le-
bens: Durch seinen „Kunsttrieb“ solle der Historiker „eine Einheit des Planes“
in die „Vergangenheit“ legen, auch „wann sie nicht darinnen“ ist (290, 19-21),
so dass ein organisches Ganzes entstehen kann (vgl. dazu die Kritik in Kapitel
II.9, Abschnitt 5 des Überblickskommentars). Analogien zu einer solchen Kon-
struktion der Geschichte im Sinne N.s sind in Freuds Vorstellung von der psy-
choanalytischen Rekonstruktion der Lebensgeschichte zu erkennen. So erklärt
Freud in seiner Schrift Konstruktionen in der Analyse (1937), psychoanalytische
„Konstruktion“ habe den Charakter einer zu überprüfenden „Vermutung“; al-
lein „die Fortsetzung der Analyse“ entscheide über deren „Richtigkeit oder Un-
brauchbarkeit“ (Freud: Studienausgabe in zehn Bänden und einem Ergän-
zungsband 1982, Ergänzungsband, 402). „Das ,Nein‘ des Analysierten“ zu den
,Konstruktionen4 des Psychoanalytikers hält Freud nur in Ausnahmefällen für
den „Ausdruck berechtigter Ablehnung; ungleich häufiger ist es Äußerung ei-
nes Widerstandes, der durch den Inhalt der mitgeteilten Konstruktion hervor-
gerufen wird“ (ebd., 400). Und obwohl das ,Nein4 des Patienten zur Deutung
des Analytikers deren „Richtigkeit“ nicht „beweist“, verträgt es sich laut Freud
„sehr gut mit dieser Möglichkeit“ (ebd., 400).
Kritiker der Psychoanalyse beanstandeten Freuds Tendenz, „das ,Nein4 des
Analysierten“ als Indiz für einen auf Verdrängung basierenden innerseelischen
Widerstand zu betrachten und es darüber hinaus sogar als Bestätigung für die
vom Patienten abgewehrte Deutung des Analytikers zu vereinnahmen (vgl.
dazu Neymeyr 2017/18, 78-86). Wie N. mit seinen Überlegungen zur Historie,
so orientiert sich auch Freud mit seiner Vorstellung von der „Richtigkeit“ der
lebensgeschichtlichen Deutung (vgl. Freud: Konstruktionen in der Analyse,
402) keineswegs strikt am Objektivitätsprinzip. Das zeigt seine Feststellung,
zwar gebe es keine „Garantien“ dafür, „daß wir nicht irregehen“; aber auch
eine vorübergehende „unrichtige Konstruktion“ bringe dem Patienten „keinen
 
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