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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0400
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37k Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

N. kritisiert den Vorsehungsglauben und die Geschichtsteleologie Hegels
als Umschlagen eines epigonalen Spätzeitbewusstseins in die kompensatori-
sche Vorstellung, sich selbst auf dem „Höhepunkt [...] des Weltprozesses“ zu
befinden (308, 30-31). Unter Rekurs auf N.s UB II HL beschreibt Walter Benja-
min in seinen 1939 entstandenen Thesen Über den Begriff der Geschichte eine
Mentalität dieser Art mit kritischer Perspektive als Geschichte der „Sieger“:
Laut Benjamin verfehlt das „Verfahren der Einfühlung“, mit dem „der histori-
sche Materialismus gebrochen hat“, aus „Trägheit“ die Möglichkeit, „des ech-
ten historischen Bildes sich zu bemächtigen, das flüchtig aufblitzt“ (Benjamin:
Gesammelte Schriften, Bd. 1,2,1974, 696). Kritisch bewertet er den „Geschichts-
schreiber des Historismus“, der sich „unweigerlich in den Sieger“ der Ge-
schichte „einfühlt“ und damit affirmativ „den jeweils Herrschenden“ zuarbei-
tet, ohne zu beachten, dass sich „die Kulturgüter“ als „Beute“ nicht nur „der
Mühe der großen Genies“ verdanken, sondern auch „der namenlosen Fron ih-
rer Zeitgenossen“, also nicht nur „der Kultur“, sondern auch „der Barbarei“
(ebd.). In diesem Sinne deutet Benjamin den Primat des Lebens gemäß N.s
Historienschrift gesellschaftskritisch um. In der VI. These beschreibt er die Ge-
schichte auf eine Weise, die zugleich an N.s Kritik am Objektivitätsprinzip den-
ken lässt: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ,wie es
denn eigentlich gewesen ist‘.“ (Ebd., 695.) In Benjamins Schrift Über den Be-
griff der Geschichte zeigt schon das Motto zur XII. These eine Bezugnahme auf
N. Denn offenkundig zitiert er hier aus N.s Vorwort zu UB II HL (245, 12-14):
„Wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte
Müßiggänger im Garten des Wissens braucht“ (Benjamin 1974, 700). N. selbst
lässt dieser Aussage in der Historienschrift den Satz folgen: „Das heisst, wir
brauchen sie zum Leben und zur That“ (245, 16).
Wenn Walter Benjamin erklärt, die „Jetztzeit“ fasse in einer „ungeheueren
Abbreviatur die Geschichte der ganzen Menschheit“ zusammen (Benjamin
1974, 703), dann greift er auf eine Passage aus UB III SE zurück, in der N. den
„Philosophen“ als „Abbild und Abbreviatur der ganzen Welt“ charakterisiert
(KSA 1, 410, 7-9). Allerdings verbindet Benjamin seine Perspektive auf die Ge-
schichte - im Unterschied zu N. - mit einer „messianischen“ Utopie (Benjamin
1974, 703). Dadurch erfährt auch seine Abgrenzung von einer historistischen
„Universalgeschichte“ und von der „Masse der Fakten“ im Historismus eine
Umakzentuierung: Benjamin schreibt der „materialistischen Geschichtsschrei-
bung“ nämlich ein „konstruktives Prinzip“ zu (ebd., 702), das bei ihm aller-
dings (anders als bei N.) auf eine „Stillstellung des Geschehens“ zugunsten
„einer revolutionären Chance“ zielt (ebd., 703) und letztlich dazu dienen soll,
„das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“ (ebd., 701, 702). In diesem
Sinne kontrastiert Benjamin „die materialistische Geschichtsschreibung“ mit
 
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