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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0421
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Überblickskommentar, Kapitel 11.9: Problematische Aspekte 395

mitunter aber nur geringe Bedeutung haben, trifft er gewisse problematische
Tendenzen in der Geschichtswissenschaft seiner Zeit. Denn kulturhistorische
Untersuchungen, die auf Inventarlisten des Vergangenen zielen, erzeugen
durch immer unübersichtlicher werdende Datenmengen eine fundamentale
Desorientierung. Zum toten Bildungsballast drohen die historischen Stoffmas-
sen zu verkommen, wenn sie nicht mehr intellektuell durchdrungen werden
können. Zudem mindert die Überfülle des Datenmaterials, die sich aus unzu-
reichender Selektion und Gewichtung des positivistischen Wissens ergibt, auch
die Bedeutung der Einzeldaten. Dadurch fördert sie zugleich den Orientie-
rungsverlust und leistet auf diese Weise einem Werterelativismus Vorschub,
der in der Kultur auch subversive Wirkungen entfalten kann.
Problematisch erscheint allerdings N.s Tendenz, Positivismus und Relati-
vismus in UBII HL als symptomatisch für die kulturelle Situation seiner Epo-
che insgesamt zu betrachten und die kritische Zeitdiagnose zugleich über den
spezifischeren Bereich der Bildungsinstitutionen hinaus zu generalisieren (vgl.
dazu Abschnitt 9 im vorliegenden Kapitel II.9). - Vor N.s Historienschrift wie-
sen bereits andere Autoren auf problematische Konsequenzen einer positivisti-
schen Geschichtswissenschaft hin (vgl. dazu die Darstellung des Historismus-
Diskurses in Kapitel II.7). Indem N. diese Kritik jedoch polemisch verabsolu-
tiert, gelangt er zu einem einseitigen Gesamturteil über die Geschichtswissen-
schaft im Zeitalter des Historismus. Dabei fällt zugleich auch auf, dass N. die
Leistungen der bedeutenden Historiographen des 19. Jahrhunderts kaum zu
würdigen weiß (vgl. dazu Grätz 2012, 187).
7. Decadence-Diagnose und Epigonen-Syndrom im Spannungsverhältnis
zum Fortschrittsoptimismus der Epoche
Einseitig erscheint in UB II HL auch N.s Konzentration auf die Epigonenproble-
matik, über die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Autoren
poetisch und essayistisch reflektierten (vgl. dazu NK 279, 11-13; 295, 4-7; 306,
13-19). Mit seiner Kulturkritik nimmt N. auf eine damals weitverbreitete Stim-
mung Bezug. Im Konsens mit Schriftstellern und Theoretikern seiner Zeit sieht
er die Auswirkungen des Epigonenbewusstseins darin, dass es durch gesteiger-
te Bewunderung für die geistigen Überväter innerhalb der Kulturtradition Zwei-
fel an der Chance zu eigener Kreativität weckt. Auf diese Weise fördert es eine
Haltung von Resignation und Lethargie, welche die kulturelle Weiterentwick-
lung beinträchtigen kann. N. verbindet seine kritische Diagnose der zeitgenös-
sischen Mentalität mit dem Anspruch auf kulturschöpferische Ambitionen: Mit
einem „vorwärts“ (295, 1) gerichteten Blick auf künftige Lebensmöglichkeiten
 
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