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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0432
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406 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

wirklich zu kenne n“ (KSA 1, 363, 25-27). Inwiefern dabei gerade der Philo-
soph einen Sonderstatus erhalten soll, zeigt N.s Aussage: „Deshalb muss der
Philosoph seine Zeit in ihrem Unterschiede gegen andre wohl abschätzen und,
indem er für sich die Gegenwart überwindet, auch in seinem Bilde, das er vom
Leben giebt, die Gegenwart überwinden“ (KSA 1, 361, 10-14). Generell sieht N.
das große Individuum in einem antagonistischen Verhältnis zur eigenen Zeit.
Ausgehend von dieser Einschätzung, die seinem eigenen avantgardistischen
Selbstverständnis entspricht, entwirft er kritische Epochendiagnosen, die sich
mit einem missionarischen Anspruch auf eine Neugestaltung der Kultur ver-
binden. Vor diesem Hintergrund formuliert N. in einem Brief an Carl von Gers-
dorff bereits am 4. Februar 1872 das Plädoyer: „Was Du auch thun magst -
denke daran dass wir beide mit berufen sind, an einer Culturbewegung unter
den Ersten zu kämpfen und zu arbeiten, welche vielleicht in der nächsten Ge-
neration, vielleicht noch später der grossem Masse sich mittheilt“ (KSB 3,
Nr. 197, S. 286). Zu N.s programmatischem Konzept der ,Unzeitgemäßheit4 (vgl.
z. B. KSA 1, 346, 13; 361, 9-14) und zu dessen Prägung durch Schopenhauer,
von dem N. beispielsweise die Vorstellung von einem über die Gegenwart rich-
tenden „Tribunal der Nachwelt“ (PP I, Hü 155) übernimmt (vgl. KSA 1, 425, 6-
17), vgl. ergänzend NK 425, 7-17 sowie NK 242, 9-11, NK 364, 7-11 und NK 407,
29-31.
Naheliegenderweise versucht N. das Potential einer unzeitgemäßen4 Kul-
turkritik sowohl in UBII HL als auch in UB III SE durch Reflexionen deutlich
zu machen, die historische Korrelationen ausdrücklich mitberücksichtigen.
Ähnlich wie zuvor bereits Schopenhauer entfaltet mitunter auch N. seine kriti-
schen Epochendiagnosen, indem er aus der zeitübergreifenden Metaperspekti-
ve der Zukunft retrospektiv ein Verdikt über seine Gegenwart formuliert. So
erklärt er in UB III SE mit polemischer Pointierung: „Es wäre also möglich, dass
einem späteren Jahrhundert vielleicht gerade unser Zeitalter als saeculum ob-
scurum gälte; weil man mit seinen Producten am eifrigsten und längsten die
Öfen geheizt hätte“ (KSA 1, 364, 7-11). Ähnlich wie zuvor bereits Schopenhauer
inszeniert N. einen unzeitgemäßen4 Gestus par excellence, indem er die eigene
Epoche aus einer imaginären Zukunftsperspektive radikal abwertet. Zu Scho-
penhauers Verdikt über die „Jetztzeit“, der er „in einem Zauberspiegel zeigen“
möchte, „wie sie in den Augen der Nachwelt sich ausnehmen wird“ (PP I,
Hü 185), vgl. NK 364, 7-11. In UB III SE nimmt N. hypothetisch eine ,unzeitge-
mäße4 Position aus der Perspektive künftiger Generationen ein, indem er prog-
nostiziert, dass „eine hellere Nachwelt unserer Zeit im höchsten Maasse den
Vorwurf des Verdrehten und Verwachsenen machen wird“ (KSA 1, 407, 29-31).
Zu Einschätzungen dieser Art vgl. auch NK 346, 12-14 und NK 407, 29-31.
Analog zu N.s Ideal der Unzeitgemäßheit in der Vorrede zu UB II HL äußer-
te sich der dänische Literaturkritiker und Philosoph Georg Brandes in seiner
 
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