Stellenkommentar UB II HL 1, KSA 1, S. 247-248 407
ersten Kopenhagener Vorlesung über N.: Hier vertrat er 1888 sein Konzept einer
Züchtung und Erziehung ,unzeitgemäßer4 „Geistesaristokraten [...]. Was wir
von dem Erzieher, den wir suchen, lernen müssen, ist uns selbst gegen die
Zeit und den Zeitgeist zu erziehen“ (Brandes 1888, nach der Transkription der
Vorlesung übersetzt von Benne 2012, 414). Martin Heidegger reflektiert in sei-
nen Aufzeichnungen zu N.s UB II HL den seines Erachtens per se ,unzeitgemä-
ßen4 Avantgarde-Status der Philosophie (vgl. Heidegger, Bd. 46, 2003, 105).
Vgl. in Kapitel II.8 des Überblickskommentars die ausführliche Darstellung zu
Heideggers Rezeption von N.s Historienschrift und zur geistesaristokratischen
Programmatik der ,Unzeitgemäßheit4 bei Brandes.
Eine Alternative zu Standpunkten des Altphilologen, die N. im vorliegen-
den Kontext von UB II HL im Sinne ,unzeitgemäßen4 Denkens transformiert,
schreibt er seiner Spätschrift Der Fall Wagner ein, und zwar aus großer zeitli-
cher Distanz zu seiner mittlerweile längst abgelegten Philologen-Existenz.
Trotz dieser zwischenzeitlich von ihm vollzogenen lebensgeschichtlichen Zä-
sur zeigt sich die gedankliche Kontinuität in der dort erneut hervortretenden
programmatischen Intention auf ,Unzeitgemäßheit4. Besonderen Nachdruck
verleiht N. seinem philosophischen Selbstverständnis dabei durch das rhetori-
sche Stilmittel des Dialogismus: „Was verlangt ein Philosoph am ersten und
letzten von sich? Seine Zeit in sich zu überwinden, ,zeitlos4 zu werden. Womit
also hat er seinen härtesten Strauss zu bestehn? Mit dem, worin gerade er das
Kind seiner Zeit ist. Wohlan! Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit,
will sagen ein d e c a d e n t: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen
wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich dagegen“ (KSA 6, 11, 14-20). Die in
UB II HL bereits entfaltete Decadence-Diagnose steigert sich in N.s Spätwerk
„zum omnipräsenten Bedrohungs-Szenario“ (Jochen Schmidt 2012c, 166).
1.
248, 2-6 Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht was
Gestern, was Heute ist, [...] kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich
an den Pflock des Augenblickes] Vorstufen zu dieser Textpassage und zu ihrem
näheren Kontext finden sich in N.s nachgelassenen Notaten: vgl. NL 1873, 29
[98], KSA 7, 676-677 und NL 1873/74, 30 [2], KSA 7, 725-726. Anders als im vor-
liegenden Zusammenhang von UB II HL hat N. seine Bezugnahme auf den ita-
lienischen Dichter Giacomo Leopardi (1798-1837), den er analog zu Schopen-
hauer (WWVII, Kap. 46, Hü 675) wegen der pessimistischen Grundierung und
der stilistischen Qualität seiner Werke außerordentlich schätzte, an späterer
Stelle von UB II HL (256, 18-26) sowie in den Notaten auch kenntlich gemacht
ersten Kopenhagener Vorlesung über N.: Hier vertrat er 1888 sein Konzept einer
Züchtung und Erziehung ,unzeitgemäßer4 „Geistesaristokraten [...]. Was wir
von dem Erzieher, den wir suchen, lernen müssen, ist uns selbst gegen die
Zeit und den Zeitgeist zu erziehen“ (Brandes 1888, nach der Transkription der
Vorlesung übersetzt von Benne 2012, 414). Martin Heidegger reflektiert in sei-
nen Aufzeichnungen zu N.s UB II HL den seines Erachtens per se ,unzeitgemä-
ßen4 Avantgarde-Status der Philosophie (vgl. Heidegger, Bd. 46, 2003, 105).
Vgl. in Kapitel II.8 des Überblickskommentars die ausführliche Darstellung zu
Heideggers Rezeption von N.s Historienschrift und zur geistesaristokratischen
Programmatik der ,Unzeitgemäßheit4 bei Brandes.
Eine Alternative zu Standpunkten des Altphilologen, die N. im vorliegen-
den Kontext von UB II HL im Sinne ,unzeitgemäßen4 Denkens transformiert,
schreibt er seiner Spätschrift Der Fall Wagner ein, und zwar aus großer zeitli-
cher Distanz zu seiner mittlerweile längst abgelegten Philologen-Existenz.
Trotz dieser zwischenzeitlich von ihm vollzogenen lebensgeschichtlichen Zä-
sur zeigt sich die gedankliche Kontinuität in der dort erneut hervortretenden
programmatischen Intention auf ,Unzeitgemäßheit4. Besonderen Nachdruck
verleiht N. seinem philosophischen Selbstverständnis dabei durch das rhetori-
sche Stilmittel des Dialogismus: „Was verlangt ein Philosoph am ersten und
letzten von sich? Seine Zeit in sich zu überwinden, ,zeitlos4 zu werden. Womit
also hat er seinen härtesten Strauss zu bestehn? Mit dem, worin gerade er das
Kind seiner Zeit ist. Wohlan! Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit,
will sagen ein d e c a d e n t: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen
wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich dagegen“ (KSA 6, 11, 14-20). Die in
UB II HL bereits entfaltete Decadence-Diagnose steigert sich in N.s Spätwerk
„zum omnipräsenten Bedrohungs-Szenario“ (Jochen Schmidt 2012c, 166).
1.
248, 2-6 Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht was
Gestern, was Heute ist, [...] kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich
an den Pflock des Augenblickes] Vorstufen zu dieser Textpassage und zu ihrem
näheren Kontext finden sich in N.s nachgelassenen Notaten: vgl. NL 1873, 29
[98], KSA 7, 676-677 und NL 1873/74, 30 [2], KSA 7, 725-726. Anders als im vor-
liegenden Zusammenhang von UB II HL hat N. seine Bezugnahme auf den ita-
lienischen Dichter Giacomo Leopardi (1798-1837), den er analog zu Schopen-
hauer (WWVII, Kap. 46, Hü 675) wegen der pessimistischen Grundierung und
der stilistischen Qualität seiner Werke außerordentlich schätzte, an späterer
Stelle von UB II HL (256, 18-26) sowie in den Notaten auch kenntlich gemacht