408 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
(vgl. dazu NK 256, 18-26). Die beiden genannten Nachlass-Passagen entspre-
chen einander im Aussagegehalt, enthalten aber Formulierungsvarianten. Von
der endgültigen Textversion in UBII HL, die durch den direkten Appell an den
Leser größere Suggestivkaft erreicht, unterscheiden sie sich vor allem dadurch,
dass sie die neidische Perspektive des Menschen auf das Tier anschließend
durch sechs Verse aus der Lyrik Leopardis exemplifizieren, den N. auch als
„Meister der Prosa“ (KSA 3, 448,19) und als „das moderne Ideal eines Philolo-
gen“ (NL 1875, 3 [23], KSA 8, 22) betrachtet. Die ins Deutsche übersetzten Verse
Leopardis lauten (mit ihrem Kontext in N.s nachgelassenem Notat) folgender-
maßen: „Die Heerde weidet an uns vorüber: sie fühlt keine Vergangenheit, [...]
kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augen-
blicks: so dass der Mensch sie sehend seufzen muss und sie anreden möchte,
wie Giacomo Leopardi im Nachtgesang des Hirten in Asien:
Ach wie muss ich dich beneiden!
Nicht nur weil frei du scheinest
Beinah von allen Leiden,
Mühsal, Verlust, die schlimmste
Beängstigung im Augenblick vergessend -
Mehr noch, weil nie der Überdruss dich quälet!
Wir seufzen aber über uns, dass wir das Vergangne nicht los werden können:
während es uns scheinen will, als ob das Thier glücklich sein müsse, weil es
<nicht> überdrüssig wird, sofort vergisst und fortwährend den erlebten Augen-
blick in Nebel und Nacht zurückweichen sieht“ (NL 1873, 29 [98], KSA 7, 676-
677). Vgl. auch die nachgelassene Parallelstelle dazu (mit Varianten): NL 1873/
74, 30 [2], KSA 7, 725-726. Vgl. dazu den Beleg in: Giacomo Leopardi’s Gedichte,
1865, 91-95. Vgl. darüber hinaus auch Bollnow 1972, 66-69 und Dahlkvist 2012,
173-180. In dem Maße, in dem sich N. später vom Pessimismus Schopenhauers
entfernt, wächst auch seine Distanz zu Leopardi (vgl. dazu Belege in NK 256,
18-26).
Ähnliche Perspektiven wie N. im vorliegenden Kontext von UB II HL entwi-
ckelt bereits Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstel-
lung, wenn er Historizität als Spezifikum der menschlichen Gattung bestimmt.
Schon im ersten Band dieses Werkes von 1819 betont Schopenhauer die Diffe-
renz zwischen Tier und Mensch, indem er die Wahrnehmungsweise der Tiere
folgendermaßen beschreibt: „Sie haben indessen bloß anschauliche Vorstel-
lungen, keine Begriffe, keine Reflexion, sind daher an die Gegenwart gebun-
den, können nicht die Zukunft berücksichtigen“ (WWVI, § 27, Hü 180). Und
den Sonderstatus des Menschen hebt er hervor, wenn er konstatiert, „daß in
(vgl. dazu NK 256, 18-26). Die beiden genannten Nachlass-Passagen entspre-
chen einander im Aussagegehalt, enthalten aber Formulierungsvarianten. Von
der endgültigen Textversion in UBII HL, die durch den direkten Appell an den
Leser größere Suggestivkaft erreicht, unterscheiden sie sich vor allem dadurch,
dass sie die neidische Perspektive des Menschen auf das Tier anschließend
durch sechs Verse aus der Lyrik Leopardis exemplifizieren, den N. auch als
„Meister der Prosa“ (KSA 3, 448,19) und als „das moderne Ideal eines Philolo-
gen“ (NL 1875, 3 [23], KSA 8, 22) betrachtet. Die ins Deutsche übersetzten Verse
Leopardis lauten (mit ihrem Kontext in N.s nachgelassenem Notat) folgender-
maßen: „Die Heerde weidet an uns vorüber: sie fühlt keine Vergangenheit, [...]
kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augen-
blicks: so dass der Mensch sie sehend seufzen muss und sie anreden möchte,
wie Giacomo Leopardi im Nachtgesang des Hirten in Asien:
Ach wie muss ich dich beneiden!
Nicht nur weil frei du scheinest
Beinah von allen Leiden,
Mühsal, Verlust, die schlimmste
Beängstigung im Augenblick vergessend -
Mehr noch, weil nie der Überdruss dich quälet!
Wir seufzen aber über uns, dass wir das Vergangne nicht los werden können:
während es uns scheinen will, als ob das Thier glücklich sein müsse, weil es
<nicht> überdrüssig wird, sofort vergisst und fortwährend den erlebten Augen-
blick in Nebel und Nacht zurückweichen sieht“ (NL 1873, 29 [98], KSA 7, 676-
677). Vgl. auch die nachgelassene Parallelstelle dazu (mit Varianten): NL 1873/
74, 30 [2], KSA 7, 725-726. Vgl. dazu den Beleg in: Giacomo Leopardi’s Gedichte,
1865, 91-95. Vgl. darüber hinaus auch Bollnow 1972, 66-69 und Dahlkvist 2012,
173-180. In dem Maße, in dem sich N. später vom Pessimismus Schopenhauers
entfernt, wächst auch seine Distanz zu Leopardi (vgl. dazu Belege in NK 256,
18-26).
Ähnliche Perspektiven wie N. im vorliegenden Kontext von UB II HL entwi-
ckelt bereits Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstel-
lung, wenn er Historizität als Spezifikum der menschlichen Gattung bestimmt.
Schon im ersten Band dieses Werkes von 1819 betont Schopenhauer die Diffe-
renz zwischen Tier und Mensch, indem er die Wahrnehmungsweise der Tiere
folgendermaßen beschreibt: „Sie haben indessen bloß anschauliche Vorstel-
lungen, keine Begriffe, keine Reflexion, sind daher an die Gegenwart gebun-
den, können nicht die Zukunft berücksichtigen“ (WWVI, § 27, Hü 180). Und
den Sonderstatus des Menschen hebt er hervor, wenn er konstatiert, „daß in