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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0437
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Stellenkommentar UB II HL 1, KSA 1, S. 248 411

gung menschlichen Erinnerns als künstlerischer Kraft erklärt habe (vgl. Lemm
2007, 169-200).
Noch vor der Publikation von UB II HL wählt N. bereits 1873 für die An-
fangspassage seiner nachgelassenen Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne ein Entree in Gestalt einer Fabel, mit der er den traditi-
onellen Sonderstatus des Menschen als ,Krone der Schöpfung4 ironisch suspen-
diert: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen
flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge
Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Mi-
nute der Weltgeschichte4: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzü-
gen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. -
So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illu-
strirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und
beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab
Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird
sich nichts begeben haben44 (KSA 1, 875, 2-13).
Eine Gemeinsamkeit der beiden Fabeln liegt in der Fiktionalisierung des
gedanklichen Gehalts und in einer rhetorischen Stilisierung, die in WL aller-
dings elaborierter ausfällt als in UB II HL (zum Evidenzeffekt der metaphori-
schen Strategien zur Desillusionierung in WL vgl. Neymeyr 2016b, 336-338).
Während N. in UB II HL den Menschen aber durch die Kontinuität seines Zeit-
bewusstseins und die damit verbundene Gedächtnisleistung vor dem vergessli-
chen, auf die Gegenwart fixierten Tier ausgezeichnet sieht und insofern eine
spezifische Differenz zwischen Mensch und Tier hervorhebt, depotenziert er
die Menschen in der am Anfang von WL hypothetisch inszenierten Fabel zu
„klugen Thiere[n]44. Derartige Strategien, mithilfe inszenierter Dialogpartien
größere Lebendigkeit zu erzielen und gedankliche Essenz in anschaulicher Pro-
zessualität zu vermitteln, setzt N. in seinem Frühwerk nur ausnahmsweise ein,
lässt sie allerdings später in Also sprach Zarathustra zum konstitutiven Gestal-
tungsprinzip avancieren.
248, 18-20 Er wundert sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht
lernen zu können und immerfort am Vergangenen zu hängen: mag er noch so
weit, noch so schnell laufen, die Kette läuft mit.] Das anthropologische Charakte-
ristikum, mit dem N. zuvor die Überlegenheit des Menschen gegenüber dem
Tier beschrieben hat (vgl. dazu NK 248, 12-17), wird hier mit einem gattungs-
spezifischen Defizit verbunden: mit der Unfähigkeit, „das Vergessen“ zu „ler-
nen“. Insofern beruht die Kontinuität des Zeitbewusstseins als positives Kenn-
zeichen des Menschen auf einer Gedächtnisleistung, die N. zugleich mit der
negativen Vorstellung einer Gefangenschaft assoziiert. Unter dieser Perspektive
relativiert sich die spezifische Differenz zwischen Mensch und Tier: Während
 
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