Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0438
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
412 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

das vergessliche Tier stets auf die Gegenwart fixiert bleibt, ist der Mensch per-
manent an sein Gedächtnis gefesselt. Negativ konnotiert ist die Kettenmeta-
phorik, weil sie hier eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit zum Ausdruck
bringt und insofern (wenn auch in anderer Hinsicht) zugleich eine Analogie
zum Tier herstellt, das „kurz angebunden“ ist „an den Pflock des Augenbli-
ckes“ (248, 5-6). Indem N. die Kettenmetaphorik auf das menschliche Gedächt-
nis bezieht, greift er auf eine bereits topologisch fixierte Vorstellung zurück,
um sie im vorliegenden Kontext dann pejorativ umzukodieren.
Mit seinem Vorstellungsbild der Kette schließt N. an die facettenreiche, bis
in die Antike zurückgehende Tradition der philosophischen Kettenmetaphorik
an, die sowohl in naturphilosophischen als auch in erkenntnistheoretischen
Kontexten auf vielfältige Weise Verwendung fand und in verschiedenerlei Hin-
sicht zur Verbildlichung von Ordnungszusammenhängen eingesetzt wurde: für
die Ordnung der Welt ebenso wie für die Ordnung des Denkens und Wissens
sowie für die Ordnung kultureller Entwicklungen (vgl. dazu die Quellenstudie
von Christian Strub 2011, 25-36). Auch der Gebrauch der Kettenmetapher als
Bezeichnung für das synthetische Potential der Gedächtnisleistung verweist
auf eine lange kulturgeschichtliche Tradition. Vor N.s UB II HL beschrieb be-
reits im 18. Jahrhundert beispielsweise Diderot das Gedächtnis als eine Kette
(vgl. Harald Weinrich 1964, 23-26). Und Herder gebrauchte die Kettenmetapho-
rik schon ein Jahrhundert vor N.s UB II HL, um historische Zusammenhänge
zu veranschaulichen: In seinem Werk Auch eine Philosophie der Geschichte zur
Bildung der Menschheit charakterisiert er die Geschichte 1774 als ,Kette4 mit
vielfältigen Verschlingungen (vgl. dazu Katrin Meyer 1998, 4, 7). Im vorliegen-
den Kontext von UB II HL transferiert N. die Metapher aus dem Geschichtsdis-
kurs in den Bereich des Gedächtnisses. Zum Spannungsfeld von Erinnern und
Vergessen, vor allem zum Stellenwert rhetorischer Prinzipien der Antike in N.s
UB II HL vgl. Bourquin 2009, 93-110.
In Menschliches, Allzumenschliches II erweitert N. das Bedeutungsspektrum
der Kettenmetapher erheblich über die Dimension von Gedächtnis und Ver-
gangenheitsbezug hinaus, indem er sie in den umfassenden Horizont der Men-
talitäts- und Kulturgeschichte stellt. Zugleich differenziert er seine Wertung,
indem er sie auf unterschiedliche semantische Aspekte bezieht und die ent-
wicklungsfördernde Funktion der Kette im Zusammenhang mit der Entfaltung
des anthropologischen Potentials im Laufe der Geistes- und Kulturgeschichte
mitreflektiert. Dabei geht es ihm um die spezifischen Differenzen zwischen
Mensch und Tier. In einer Art dialektischer Vermittlung bedarf der Mensch zu-
nächst der Ketten, obwohl sie ihn in gewisser Hinsicht auch mit der Lebenssi-
tuation des Tieres verbinden. In Ketten gelegt, erlangt er dann aber durch eine
komplexe Entwicklung mithilfe von „schweren und sinnvollen Irrthümer[n]“
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften