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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0440
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414 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Denn durch das „Gewaltsame“ wurde laut N. „dem europäischen Geiste seine
Stärke [...] und feine Beweglichkeit angezüchtet“ (KSA 5, 109, 12-15). Aus die-
sem Grund propagiert er sogar eine „Selbst-Tyrannei“ (KSA 5, 22, 20-21) durch
stoische Disziplin und verbindet die Apostrophe „wir freien Geister“ (KSA 5,
162, 19) bezeichnenderweise mit dem Appell: „bleiben wir hart, wir letzten
Stoiker!“ (KSA 5, 162, 28). - Zu N.s Ambivalenzen gegenüber dem Stoizismus
vgl. Neymeyr 2008c, Bd. 2,1165-1198 und 2009a, 65-92. Vgl. ergänzend NK 261,
11-18.
249, 5-6 So lebt das Thier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart]
In Abgrenzung von N.s Begriff des ,Unhistorischen4, der in UB II HL nicht allein
mit dem „an den Pflock des Augenblickes“ angebundenen Tier (248, 6), son-
dern auch mit dem Menschen in Verbindung gebracht wird (vgl. z. B. NK 252,
TI - 253,11), betrachtet Martin Heidegger das ,Unhistorische4 als anthropologi-
sches Spezifikum. In seinen Seminar-Aufzeichnungen zu N.s Historienschrift
(Wintersemester 1938/39) reserviert Heidegger diesen Begriff deshalb für den
Menschen: „unhistorisch kann nur sein, was historisch ist. Das Tier müßte des-
halb, um unhistorisch sein zu können, ein Mensch sein“ (Heidegger, Bd. 46,
2003, 30). Heidegger sieht den Menschen „durch das Historische gezeichnet
und ausgezeichnet. Zugleich aber hat im menschlichen Leben das Unhis-
torische einen Vorrang. Jene Auszeichnung durch das Historische und dieser
Vorrang des Unhistorischen gehören im Menschen zusammen; in solcher Zu-
sammengehörigkeit waltet somit das Gegenstrebige von Jenem, was in sich ver-
schieden ist“ (ebd., 22).
Zum Zweck der Differenzierung zwischen Mensch und Tier führt Heidegger
daher - über die Terminologie von N.s UB II HL hinaus - einen zusätzlichen
Begriff ein, um das Tier zu charakterisieren: „Das Tier ist nicht unhistorisch,
wohl aber historielos, was beides sich nicht deckt“ (ebd., 30). In einer späteren
Textpassage notiert Heidegger unter der Überschrift „Das Historische und das
Unhistorische“ Folgendes: „Das Un-historische ist bei Nietzsche mehrdeutig:
1. = historielos - keine Möglichkeit von Historie - das Tier.
2. = nicht an die Vergangenheit gekettet, sofern kraft des Vergessens auf Grund
des Schaffens. Dazu muß als
3. (von Nietzsche nicht beachtetes) gesetzt sein:
das Noch-nicht-historische, aber die Historie gerade und erst ermöglichende.
Das Unhistorische ist (in diesem Sinne) die Geschichte. Das ,Un-4 sagt keine
Beraubung, sondern den Vorzug, den Nietzsche selbst dem Leben zuspricht“
(ebd., 95).
Mit analoger Begründung grenzt sich zuvor bereits Karl Jaspers in seinem
Buch Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens (1936) von
N.s Konzept des ,Unhistorischen4 ab, weil er es für nicht hinreichend differen-
 
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