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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0441
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Stellenkommentar UB II HL 1, KSA 1, S. 249 415

ziert hält: Denn N. lässt „scheinbar das Unhistorische, das wie das tierische
Dasein ein brutales Gleichgültigwerden im Nichtwissen und bloßen Vergessen
ist, mit demjenigen Unhistorischen zusammenfließen, das eigentlich mensch-
lich, das ursprüngliche Sein in der Gegenwart und damit schon Keim ge-
schichtlichen Sehens ist“ (Jaspers 1950, 242).
249, 21-25 Dann lernt es das Wort „es war“ zu verstehen, jenes Losungswort,
[...] ihn zu erinnern, was sein Dasein im Grunde ist - ein nie zu vollendendes
Imperfectum] N. nennt hier die grammatikalische Vergangenheitsform, die ein
zwar vergangenes, aber noch nicht abgeschlossenes Geschehen signalisiert,
und überträgt sie in die anthropologische Dimension. Dadurch wird der Sinn
entsprechend modifiziert: N. charakterisiert hier die menschliche Existenz als
nicht vollendet und zugleich auch als nicht vollendbar.
249, 27-29 jene Erkenntniss, dass Dasein [...] davon lebt, sich selbst zu vernei-
nen und zu verzehren] Mit der Vorstellung der Verneinung4 und mit der Meta-
pher des ,Sich-Verzehrens‘ greift N. auf die Philosophie Schopenhauers zurück,
in der die Thematik des Leidens zentrale Bedeutung hat. Allerdings ist N.s Ak-
zentsetzung eine andere: Ihm geht es im vorliegenden Kontext primär um die
zeitliche Struktur des menschlichen Daseins, während Schopenhauer in der
Welt als Wille und Vorstellung das unaufhörliche Getriebensein aller animali-
schen Wesen und die Aussichtslosigkeit nachhaltiger Glücksansprüche betont,
indem er die Negativität der voluntativen Dimension drastisch darstellt. Das
existentielle Leiden jedes Lebewesens begründet Schopenhauer damit, „daß
der Wille an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts daist und er ein
hungriger Wille ist. Daher die Jagd, die Angst und das Leiden“ (WWVI, § 28,
Hü 183). „Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in der
Thierwelt [...], indem jedes Thier sein Daseyn nur durch die beständige Aufhe-
bung eines fremden erhalten kann; so daß der Wille zum Leben durchgängig
an sich selber zehrt und in verschiedenen Gestalten seine eigene Nahrung ist,
bis zuletzt das Menschengeschlecht [...] in sich selbst jenen Kampf, jene Selbst-
entzweiung des Willens, zur furchtbarsten Deutlichkeit offenbart, und homo
homini lupus wird“ (WWV I, § 27, Hü 175). Erst wenn man die „Täuschung des
principii individuationis“ überwindet, vermag man zu erkennen, dass „der Wil-
le zum Leben [...] sein eigenes Fleisch gierig verzehrt“, und kann daraus dann
in einer Haltung des Mitleids auch ethische Konsequenzen ziehen (WWV I,
§ 66, Hü 441).
249, 33 - 250, 2 so hat vielleicht kein Philosoph mehr Recht als der Cyniker:
denn das Glück des Thieres, als des vollendeten Cynikers, ist der lebendige Be-
weis für das Recht des Cynismus] N. spielt hier auf die durch den Sokrates-
Schüler Antisthenes begründete antike Philosophenschule der Kyniker an, de-
 
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