Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0446
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
420 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

man eben so gut zur rechten Zeit zu vergessen weiss, als man sich zur rechten
Zeit erinnert] Diese auf die Klarheit des Bewusstseins bezogene und dadurch
erkenntnistheoretisch relevante Hell-Dunkel-Metaphorik N.s wird durch ihre
Polarität auch auf Konzepte von Rene Descartes (1596-1650) hin transparent,
der als Begründer des frühneuzeitlichen Rationalismus gilt. In seinen Medita-
tiones de prima philosophia (1641) untersucht Descartes die Problematik fal-
scher Schlüsse aufgrund von Urteilen über Dinge, die der Verstand nicht klar
einzusehen vermag. Dabei erhebt er die Klarheit und Deutlichkeit des Erken-
nens zum maßgeblichen Kriterium, um zwischen wahrer und falscher Erkennt-
nis zu differenzieren. Vertrauen könne der Mensch nur auf das, was er ,klar
und deutlich4 (lat. ,clare et distincte4) eingesehen habe. Und in seinem Discours
de la methode, aus dem N. am Anfang seiner Schrift Menschliches, Allzumensch-
liches unter dem Titel „An Stelle einer Vorrede44 sogar eine markante Passage
zitiert (KSA 2,11), spricht Descartes bei der Begründung des wissenschaftlichen
Rationalismus auch dem Vergessen eine wesentliche Funktion zu. Im Zusam-
menhang mit der Überwindung von Vorurteilen, die notwendig ist, damit
Wahrheit an die Stelle des Irrtums treten kann, bedarf es nach Descartes’ Auf-
fassung einer mentalen tabula rasa, die durch ein methodisches Vergessen von
Vorurteilen zustande kommt. - An späterer Stelle von UB II HL wendet sich N.
gegen das cartesianische Prinzip „cogito, ergo sum“, indem er ihm seine eige-
ne Maxime „vivo, ergo cogito“ entgegenhält (KSA 1, 329, 8-9), um dem Leben
gegenüber der Erkenntnis den Vorrang zu sichern. Dabei bezieht er sich auf
den bekannten Grundsatz „ego cogito, ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“),
den Descartes 1644 im ersten Kapitel seiner Principia philosophiae formuliert.
Zu N.s Auseinandersetzung mit Descartes in mehreren Passagen seiner Werke
und Nachlass-Notate vgl. ausführlich NK 329, 6-9.
252, 27-33 wir werden also die Fähigkeit, in einem bestimmten Grade unhisto-
risch empfinden zu können, für die wichtigere und ursprünglichere halten müs-
sen, insofern in ihr das Fundament liegt, auf dem überhaupt erst etwas Rechtes,
Gesundes und Grosses, etwas wahrhaft Menschliches wachsen kann. Das Unhis-
torische ist einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich Leben allein er-
zeugt] In einem nachgelassenen Strukturkonzept aus der Entstehungszeit von
UB II HL plante N. das erste Kapitel der Schrift dreiteilig: „I. Historisch, Unhis-
torisch, Überhistorisch“, um dann nach zwei weiteren Kapiteln zu notieren:
„IV. Das Unhistorische und das Überhistorische als Heilmittel für das durch
Historie geschädigte Leben“ (NL 1873, 29 [160], KSA 7, 698). In diesem Sinne
beschreibt er später auch im publizierten Text von UB II HL „das Unhisto-
rische und das Ueberhistorische“ als Therapeutika, nämlich als „Ge-
genmittel gegen das Historische“ (330, 2-3). Erläuternde Differenzierungen
zum Unhistorischen und zum Überhistorischen bietet ein weiteres Nachlass-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften