Stellenkommentar UB II HL 1, KSA 1, S. 252-254 421
Notat von 1873: „Die unhistorischen Mächte heissen Vergessen und Wahn. Die
überhistorischen Kunst Religion Mitleid Natur Philosophie“ (NL 1873, 29 [194],
KSA 7, 709). Eine zusätzliche Spezifikation des Historischen führt N. in einem
Nachlass-Notat desselben Jahres ein, in dem er zunächst wertneutral „zwei Ar-
ten das Vergangne zu betrachten“ voneinander unterscheidet, nämlich „die
historische“ und „die unhistorische“; anschließend jedoch erklärt er mit deut-
licher Wertung: „Nur wolle man mit der zweiten nicht die schlecht-historische
verwechseln, d. h. die erste in ihrer Entartung oder Unreife“ (NL 1873, 29 [88],
KSA 7, 669-670). Demzufolge kontrastiert er hier das ,Gut-Historische4 mit dem
,Schlecht-Historischen4 und beschreibt Letzteres als Depravationsform oder un-
reifes Stadium des Historischen, um den Sonderstatus des Unhistorischen
demgegenüber zu profilieren und es zugleich von defizitären Ausprägungen
des Historischen abzugrenzen.
253, 20-22 Alle Werthschätzungen sind verändert und entwerthet; so vieles ver-
mag er nicht mehr zu schätzen, weil er es kaum mehr fühlen kann] Die Bedingt-
heit von Werten durch Wertschätzungen wird in N.s späteren Werken zu einem
Thema von programmatischer Bedeutung, und zwar im Zusammenhang mit
der Möglichkeit einer „Umwertung aller Werte“. Im vorliegenden Kontext
bleibt das Problem einer Wertschätzung, mit der zugleich eine Relativität aller
Werte verbunden ist, noch auf den Bereich des Subjektiv-Persönlichen be-
schränkt.
253, 31-32 der Geburtsschooss nicht nur einer ungerechten, sondern vielmehr
jeder rechten That] N.s Vorstellung vom „Geburtsschooss“ ist von der Geburts-
metaphorik beeinflusst, die Wagner in seinen theoretischen Schriften häufig
verwendet. N. exponiert sie schon im Titel seines Erstlingswerks Die Geburt der
Tragödie.
254,1-3 Wie der Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so
ist er auch wissenlos, er vergisst das Meiste] Hier greift N. auf ein Diktum aus
Goethes Maximen und Reflexionen zurück: „Der Handelnde ist immer gewissen-
los, es hat niemand Gewissen als der Betrachtende“ (Goethe: FA, Bd. 13, 28).
254, 15 Niebuhr] Barthold Georg Niebuhr (1776-1831), war einer der bedeu-
tendsten Althistoriker des 19. Jahrhunderts. An der Berliner Universität hielt er
1810 Vorlesungen über römische Geschichte. Von 1816 bis 1823 war Niebuhr als
preußischer Gesandter beim Vatikan tätig; seit 1823 wirkte er als Professor an
der Bonner Universität. Mit seinem dreibändigen Hauptwerk Römische Ge-
schichte (1811-1832) begründete Niebuhr die historische Quellenkritik. Maßgeb-
lichen Einfluss hatte er auf die Historiker Ranke und Mommsen (vgl. NK 174,
17-18). N. äußert sich kritisch über diese beiden bedeutenden Historiker, nennt
Notat von 1873: „Die unhistorischen Mächte heissen Vergessen und Wahn. Die
überhistorischen Kunst Religion Mitleid Natur Philosophie“ (NL 1873, 29 [194],
KSA 7, 709). Eine zusätzliche Spezifikation des Historischen führt N. in einem
Nachlass-Notat desselben Jahres ein, in dem er zunächst wertneutral „zwei Ar-
ten das Vergangne zu betrachten“ voneinander unterscheidet, nämlich „die
historische“ und „die unhistorische“; anschließend jedoch erklärt er mit deut-
licher Wertung: „Nur wolle man mit der zweiten nicht die schlecht-historische
verwechseln, d. h. die erste in ihrer Entartung oder Unreife“ (NL 1873, 29 [88],
KSA 7, 669-670). Demzufolge kontrastiert er hier das ,Gut-Historische4 mit dem
,Schlecht-Historischen4 und beschreibt Letzteres als Depravationsform oder un-
reifes Stadium des Historischen, um den Sonderstatus des Unhistorischen
demgegenüber zu profilieren und es zugleich von defizitären Ausprägungen
des Historischen abzugrenzen.
253, 20-22 Alle Werthschätzungen sind verändert und entwerthet; so vieles ver-
mag er nicht mehr zu schätzen, weil er es kaum mehr fühlen kann] Die Bedingt-
heit von Werten durch Wertschätzungen wird in N.s späteren Werken zu einem
Thema von programmatischer Bedeutung, und zwar im Zusammenhang mit
der Möglichkeit einer „Umwertung aller Werte“. Im vorliegenden Kontext
bleibt das Problem einer Wertschätzung, mit der zugleich eine Relativität aller
Werte verbunden ist, noch auf den Bereich des Subjektiv-Persönlichen be-
schränkt.
253, 31-32 der Geburtsschooss nicht nur einer ungerechten, sondern vielmehr
jeder rechten That] N.s Vorstellung vom „Geburtsschooss“ ist von der Geburts-
metaphorik beeinflusst, die Wagner in seinen theoretischen Schriften häufig
verwendet. N. exponiert sie schon im Titel seines Erstlingswerks Die Geburt der
Tragödie.
254,1-3 Wie der Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so
ist er auch wissenlos, er vergisst das Meiste] Hier greift N. auf ein Diktum aus
Goethes Maximen und Reflexionen zurück: „Der Handelnde ist immer gewissen-
los, es hat niemand Gewissen als der Betrachtende“ (Goethe: FA, Bd. 13, 28).
254, 15 Niebuhr] Barthold Georg Niebuhr (1776-1831), war einer der bedeu-
tendsten Althistoriker des 19. Jahrhunderts. An der Berliner Universität hielt er
1810 Vorlesungen über römische Geschichte. Von 1816 bis 1823 war Niebuhr als
preußischer Gesandter beim Vatikan tätig; seit 1823 wirkte er als Professor an
der Bonner Universität. Mit seinem dreibändigen Hauptwerk Römische Ge-
schichte (1811-1832) begründete Niebuhr die historische Quellenkritik. Maßgeb-
lichen Einfluss hatte er auf die Historiker Ranke und Mommsen (vgl. NK 174,
17-18). N. äußert sich kritisch über diese beiden bedeutenden Historiker, nennt