422 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
Niebuhr in seiner Historienschrift jedoch mit Respekt (254, 15-26; 266, 14-21).
Auch in UB III SE erwähnt er Niebuhr (KSA 1, 411, 27).
Das nachfolgende Zitat (254,17-26) entnahm N. aus dem Werk Lebensnach-
richten über Barthold Georg Niebuhr aus Briefen desselben und aus Erinnerun-
gen einiger seiner nächsten Freunde (Bd. 2,1838, 480). In einem der nachgelas-
senen Notate aus der Entstehungszeit der Historienschrift zitiert N.: „Goethe
,eigentlich ist es nicht mein Bestreben, in den düstern Regionen der Geschichte
bis auf einen gewissen Grad deutlicher und heller zu sehn - Niebuhr war es
eigentlich und nicht die römische Geschichte, was mich beschäftigte. So eines
Mannes tiefer Sinn und emsige Weise ist eigentlich das, was uns auferbaut.
Die sämmtlichen Ackergesetze gehen mich eigentlich gar nichts an, aber die
Art, wie er sie aufklärt, wie er mir die complicirten Verhältnisse deutlich macht,
das ist’s, was mich fördert, was mir die Pflicht auferlegt, in den Geschäften,
die ich übernehme, auf gleiche gewissenhafte Weise zu verfahren.“4 (NL 1873,
29 [78], KSA 7, 664).
In einem anderen nachgelassenen Notat zitiert N. - wenn auch mit der
Einschränkung des Ungefähren („fere“) - Niebuhr selbst: „Niebuhr (fere):
,zu einer Sache wenigstens ist die Geschichte, klar und ausführlich begriffen,
nutz: dass man weiss, wie auch die grössten und höchsten Geister unsres
menschlichen Geschlechts nicht wissen wie zufällig ihr Auge die Form ange-
nommen hat, wodurch sie sehen, und wodurch zu sehen sie von Jedermann
gewaltsam fordern, gewaltsam nämlich, weil die Intensität ihres Bewusstseins
ausnehmend gross ist. Wer dies nicht ganz bestimmt und in vielen Fällen weiss
und begriffen hat, den unterjocht die Erscheinung eines mächtigen Geistes,
der in eine gegebene Form die höchste Leidenschaftlichkeit bringt: ist der Leser
unreif, so bewirkt das unmittelbare Anschauen des täglichen intellectuellen
Lebens eines Mächtigen in seiner Seele den gleichen Nachtheil, den Roman-
lecture für ein schwaches Mädchen hat.4“ (NL 1873, 29 [95], KSA 7, 673.)
254, 24-25 den unterjocht die Erscheinung eines mächtigen Geistes] Diese For-
mulierung Niebuhrs war nicht nur im Hinblick auf große Gestalten der Weltge-
schichte für N. interessant, sondern auch aufgrund seiner persönlichen Erfah-
rungen mit Wagner. Nach der ersten Phase einer enthusiastischen Wagner-
Verehrung empfand N. den Komponisten später als eine allzu dominante, ja
sogar tyrannische Persönlichkeit. Zu N.s ambivalentem Verhältnis zu Wagner
vgl. die Ausführungen in Kapitel IV.3 des Überblickskommentars zu UB IV WB.
255, 9-11 von denen David Hume spöttisch sagt: / And from the dregs of life
hope to receive, / What the first sprightly running could not give] David Hume
(1711-1776), einer der bedeutendsten Philosophen der englischen Aufklärung,
gründete Erkenntnis generell auf empirische Erfahrung und wird daher dem
Niebuhr in seiner Historienschrift jedoch mit Respekt (254, 15-26; 266, 14-21).
Auch in UB III SE erwähnt er Niebuhr (KSA 1, 411, 27).
Das nachfolgende Zitat (254,17-26) entnahm N. aus dem Werk Lebensnach-
richten über Barthold Georg Niebuhr aus Briefen desselben und aus Erinnerun-
gen einiger seiner nächsten Freunde (Bd. 2,1838, 480). In einem der nachgelas-
senen Notate aus der Entstehungszeit der Historienschrift zitiert N.: „Goethe
,eigentlich ist es nicht mein Bestreben, in den düstern Regionen der Geschichte
bis auf einen gewissen Grad deutlicher und heller zu sehn - Niebuhr war es
eigentlich und nicht die römische Geschichte, was mich beschäftigte. So eines
Mannes tiefer Sinn und emsige Weise ist eigentlich das, was uns auferbaut.
Die sämmtlichen Ackergesetze gehen mich eigentlich gar nichts an, aber die
Art, wie er sie aufklärt, wie er mir die complicirten Verhältnisse deutlich macht,
das ist’s, was mich fördert, was mir die Pflicht auferlegt, in den Geschäften,
die ich übernehme, auf gleiche gewissenhafte Weise zu verfahren.“4 (NL 1873,
29 [78], KSA 7, 664).
In einem anderen nachgelassenen Notat zitiert N. - wenn auch mit der
Einschränkung des Ungefähren („fere“) - Niebuhr selbst: „Niebuhr (fere):
,zu einer Sache wenigstens ist die Geschichte, klar und ausführlich begriffen,
nutz: dass man weiss, wie auch die grössten und höchsten Geister unsres
menschlichen Geschlechts nicht wissen wie zufällig ihr Auge die Form ange-
nommen hat, wodurch sie sehen, und wodurch zu sehen sie von Jedermann
gewaltsam fordern, gewaltsam nämlich, weil die Intensität ihres Bewusstseins
ausnehmend gross ist. Wer dies nicht ganz bestimmt und in vielen Fällen weiss
und begriffen hat, den unterjocht die Erscheinung eines mächtigen Geistes,
der in eine gegebene Form die höchste Leidenschaftlichkeit bringt: ist der Leser
unreif, so bewirkt das unmittelbare Anschauen des täglichen intellectuellen
Lebens eines Mächtigen in seiner Seele den gleichen Nachtheil, den Roman-
lecture für ein schwaches Mädchen hat.4“ (NL 1873, 29 [95], KSA 7, 673.)
254, 24-25 den unterjocht die Erscheinung eines mächtigen Geistes] Diese For-
mulierung Niebuhrs war nicht nur im Hinblick auf große Gestalten der Weltge-
schichte für N. interessant, sondern auch aufgrund seiner persönlichen Erfah-
rungen mit Wagner. Nach der ersten Phase einer enthusiastischen Wagner-
Verehrung empfand N. den Komponisten später als eine allzu dominante, ja
sogar tyrannische Persönlichkeit. Zu N.s ambivalentem Verhältnis zu Wagner
vgl. die Ausführungen in Kapitel IV.3 des Überblickskommentars zu UB IV WB.
255, 9-11 von denen David Hume spöttisch sagt: / And from the dregs of life
hope to receive, / What the first sprightly running could not give] David Hume
(1711-1776), einer der bedeutendsten Philosophen der englischen Aufklärung,
gründete Erkenntnis generell auf empirische Erfahrung und wird daher dem