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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0453
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Stellenkommentar UB II HL 1, KSA 1, S. 256 427

lativisch: „Ich empfehle an Stelle des Lateinischen den griechischen Stil auszu-
bilden, besonders an Demosthenes: Einfachheit. Auf Leopardi zu verweisen,
der vielleicht der grösste Stilist des Jahrhunderts ist“ (NL 1875, 3 [71], KSA 8,
35).
Aufzeichnungen späterer Jahre lassen allerdings eine zunehmende Distanz
N.s gegenüber der Mentalität Leopardis erkennen, und zwar in dem Maße, wie
er selbst sich vom Pessimismus Schopenhauers entfernt. So notiert N. 1878:
„Die überfeinen Unglücklichen, wie Leopardi, welche für ihren Schmerz stolz
am ganzen Dasein Rache nehmen, bemerken nicht, wie der göttliche Kuppler
des Daseins dabei über sie lacht: eben jetzt trinken sie wieder aus seinem
Mischkrug; denn ihre Rache, ihr Stolz, ihr Hang zu d e n k e n, was sie leiden,
ihre Kunst, es zu sagen - ist das nicht alles wieder - Honigseim?“ (NL 1878,
38 [2], KSA 8, 575). In analogem Sinne äußert sich N. auch elf Jahre später in
Nietzsche contra Wagner: Dort betrachtet er „Leopardi“ exemplarisch als einen
jener „grossen Dichter“, die „oft mit ihren Werken Rache“ nehmen „für eine
innere Besudelung, [...] Idealisten aus der Nähe des Sumpfes“ (KSA6, 434,
23-32). In einem Nachlass-Notat von 1885 wendet sich N. entschieden „Gegen
den falschen Idealismus, wo durch übertriebene Feinheit sich die besten
Naturen der Welt entfremden“, um dann kritisch fortzufahren: „Und daß sol-
che Shelleys, Hölderlins, Leopardis zu Grunde gehn, ist billig, ich halte gar
nicht viel von solchen Menschen“ (NL 1885, 34 [95], KSA 11, 451). Den Nutzen
des Schmerzes als Medium der Selbsterhaltung hebt N. in einem Notat von
1881 hervor: „Die Fähigkeit zum Schmerz ist ein ausgezeichneter Erhalter, eine
Art von Versicherung des Lebens: [...] er ist so nützlich als die Lust [...]. Ich
lache über die Aufzählungen des Schmerzes und Elends, wodurch sich der Pes-
simismus zurecht beweisen will - Hamlet und Schopenhauer und Voltaire und
Leopardi und Byron“ (NL 1881,13 [4], KSA 9, 618). Und drei Jahre später erklärt
er: „Die Art Hölderlin und Leopardi: ich bin hart genug, um über deren
Zugrundegehen zu lachen“ (NL 1884, 26 [405], KSA 10, 257).
Eine gegenläufige Tendenz zu diesem entschieden anti-pessimistischen
Gestus lässt jedoch ein Brief vom 3. September 1883 erkennen: Um für seinen
Zarathustra einen singulären Pessimismus reklamieren zu können, entwertet
N. hier mit strategischer Absicht die geistigen Vorgänger. So stellt er fest, „mit
dem dritten Theile“ gerate „der arme Z<arathustra> wirklich in’s Düstere“, und
zwar „so sehr, daß Schopenhauer und Leopardi nur als Anfänger und Neulinge
gegen seinen ,Pessimismus4 erscheinen werden“ (KSB 6, Nr. 461, S. 445). Im
Jahre 1888 nennt N. unter der Überschrift „Die modernen Pessimisten als
decadents“ in einer Reihe von sechs Autoren dann allerdings Schopenhauer
und Leopardi an prominenter Stelle, nämlich in erster und zweiter Position
(NL 1888, 14 [222], KSA 13, 395).
 
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