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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0452
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426 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Wollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folglich schon
ursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen an
Objekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wie-
der wegnimmt; so befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile: d. h. sein We-
sen und sein Daseyn selbst wird ihm zur unerträglichen Last. Sein Leben
schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her, zwischen dem Schmerz und
der Langenweile, welche Beide in der That dessen letzte Bestandtheile sind“
(WWVI, § 57, Hü 367-368). Die dadurch bedingte voluntative Dynamik be-
schreibt Schopenhauer so: „Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durch-
aus jedes Menschenleben fort. Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz:
die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz
nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das
Bedürfniß wieder ein: wo nicht, so folgt Oede, Leere, Langeweile, gegen welche
der Kampf eben so quälend ist, wie gegen die Noth“ (WWV I, § 57, Hü 370). Da
die „Langeweile [...] immer bereit ist jede Pause zu füllen, welche die Sorge
läßt“ (WWV I, § 58, Hü 380), gilt laut Schopenhauer: „glücklich genug, wenn
noch etwas zu wünschen und zu streben übrig blieb, damit das Spiel des steten
Ueberganges vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen
Wunsch, dessen rascher Gang Glück, der langsame Leiden heißt, unterhalten
werde, und nicht in jenes Stocken gerathe, das sich als furchtbare, lebenser-
starrende Langeweile, mattes Sehnen ohne bestimmtes Objekt, ertödtender
languor zeigt“ (WWV I, § 29, Hü 196). Zur systematischen Problematik von
Schopenhauers Langeweile-Konzeption im Spannungsfeld seiner Willensphilo-
sophie vgl. Neymeyr 1996a, 129-148 und 1996b, 133-165.
Auch in der „Regsamkeit unsers Geistes“ sieht Schopenhauer nichts ande-
res als „eine fortdauernd zurückgeschobene Langeweile“ (WWV I, § 57,
Hü 367). In seinen Aphorismen zur Lebensweisheit betont er, die individuelle
Disposition eines Menschen zur Not oder zur Langeweile sei jeweils „durch das
Maaß seiner Geisteskräfte bestimmt“ (PP I, Hü 349): „der Reichthum des Geis-
tes [...] läßt, je mehr er sich der Eminenz nähert, der Langenweile immer weni-
ger Raum. Die unerschöpfliche Regsamkeit der Gedanken aber, ihr an den
mannigfaltigen Erscheinungen der Innen- und Außenwelt sich stets erneuern-
des Spiel, die Kraft und der Trieb zu immer andern Kombinationen derselben,
setzen den eminenten Kopf, die Augenblicke der Abspannung abgerechnet,
ganz außer den Bereich der Langenweile“ (PP I, Hü 350).
Zu N.s Bezugnahme auf Leopardi in UBII HL vgl. auch NK 248, 2-6. In
UB IV WB rekurriert N. ebenfalls auf ihn, indem er „Goethe und Leopardi als
die letzten grossen Nachzügler der italienischen Philologen-Poeten“ bezeich-
net (KSA 1, 503, 18-19). Vgl. dazu NK 503, 18-19. In einem nachgelassenen
Notat von 1875 würdigt N. die stilistischen Qualitäten Leopardis sogar super-
 
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