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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0454
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428 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

256, 31 - 257, 2 Mag unsere Schätzung des Historischen nur ein occidentali-
sches Vorurtheil sein; wenn wir nur wenigstens innerhalb dieser Vorurtheile fort-
schreiten und nicht Stillestehen! Wenn wir nur dies gerade immer besser lernen,
Historie zum Zwecke des Lebens zu treiben!] Der Ausdruck „occidentalisches
Vorurtheil“ impliziert einen Kontrast zu orientalischen oder fernöstlichen Vor-
stellungen des Historischen und eröffnet insofern eine interkulturelle Perspek-
tive, die zur Relativierung eurozentrisch fixierter Vorurteile Anlass gibt. In der
Formulierung „unsere Schätzung des Historischen“ trägt das Possessivprono-
men die Betonung. Gemeint ist also nicht eine generelle Hochschätzung des
Historischen, die gerade N. als zeittypische Problematik beschreibt. Vielmehr
lässt er die Historie nur insofern gelten, als sie letztlich im Dienste des ,Lebens4
steht. Affirmativ beschreibt er sie, sofern ihr eine positive Funktion eigen ist:
im Sinne einer Bejahung des Lebens. Diese Präferenz steht der von Schopen-
hauer goutierten buddhistischen Lehre diametral gegenüber, die eine lebens-
verneinende Haltung propagiert und letztlich das Nirwana als Stadium
menschlicher Vollendung betrachtet. Schopenhauer adaptierte Elemente der
buddhistischen Weltanschauung für seine Philosophie, deren Ethik auf eine
Verneinung des Willens zum Leben4 zielt. Trotz der Affinität des jungen N. zu
Schopenhauer, die in UBIIISE besonders deutlich zum Ausdruck kommt, aber
auch in der Historienschrift festzustellen ist, zeichnet sich im vorliegenden
Kontext eine fundamentale Gegenposition ab. Sie weist ansatzweise bereits auf
die dezidierte Abwendung von Schopenhauers Philosophie voraus, die N. in
späteren Schriften vollzieht.
In einem nachgelassenen Fragment (NL 1873, 29 [88], KSA 7, 669-671), das
N. ursprünglich für die Schlusspartie des 1. Kapitels der Historienschrift vorge-
sehen hatte, heißt es: „Vielleicht aber ist auch unsere Forderung geschichtli-
cher Menschen und Völker nur ein occidentalisches Vorurtheil. Gewiss ist we-
nigstens, dass die Weisen aller Zeiten so unhistorisch gedacht haben und dass
durch Jahrtausende von historischen Erlebnissen auch keinen Schritt breit
mehr Weisheit zu erlangen ist. Die folgende Untersuchung aber wendet sich
an die Unweisen und Thätigen, um zu fragen, ob nicht gerade unsre jetzige
Manier Geschichte zu treiben erst recht der Ausdruck schwacher Persön-
lichkeiten ist: während wir doch mit dieser Manier so weit als möglich von
jenem unhistorischen Betrachten und Weisewerden entfernt sind“ (NL 1873, 29
[88], KSA 7, 670). Die Vorstellung der „schwachen Persönlichkeit“ ist vor allem
im 5. Kapitel der Historienschrift präsent, wo N. die kulturkritische Diagnose
formuliert: „der moderne Mensch leidet an einer geschwächten Persönlichkeit“
(279, 19-20). Vgl. auch 283, 13-15. Dass sich N. hier an Grillparzer orientiert,
zeigt ein Nachlass-Notat: „Grillparzer: ,Der Grundfehler des deutschen Den-
kens und Strebens liegt in einer schwachen Persönlichkeit, zufolge des-
 
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