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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0455
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Stellenkommentar UB II HL 1, KSA 1, S. 256-257 429

sen das Wirkliche, das Bestehende nur einen geringen Eindruck auf den Deut-
schen macht/“ (NL 1873, 29 [68], KSA 7, 659.) Vgl. dazu auch den Überblick
zum 5. Abschnitt der Schrift (in Kapitel IL4 des Überblickskommentars) und
NK 285, 19. — In einem anderen Nachlass-Notat von 1873 differenziert N. zwi-
schen zwei Varianten des Historischen, einer guten und einer schlechten, um
das Unhistorische und sein therapeutisches Potential von defizitären Formen
des Historischen abzugrenzen. Nachdem er „die historische“ und „die unhisto-
rische“ Art, „das Vergangne zu betrachten“, voneinander unterschieden hat,
fährt er fort: „Nur wolle man mit der zweiten nicht die schlecht-historische
verwechseln, d. h. die erste in ihrer Entartung oder Unreife“ (NL 1873, 29 [88],
KSA 7, 669-670). Heidegger sieht den Menschen „durch das Historische ge-
zeichnet und ausgezeichnet“; zugleich betont er auch, dass „im menschlichen
Leben das Unhistorische einen Vorrang“ habe (Heidegger, Bd. 46, 2003, 22) -
im Unterschied zum Tier, das „historielos“ sei (ebd., 30). Zur kritischen Ausei-
nandersetzung Heideggers mit N.s weitgefasstem Konzept des ,Unhistorischen4
vgl. NK 249, 5-6.
257, 28-34 Die Frage aber, bis zu welchem Grade das Leben den Dienst der
Historie überhaupt brauche, ist eine der höchsten Fragen und Sorgen in Betreff
der Gesundheit eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur. Denn bei einem gewis-
sen Uebermaass derselben zerbröckelt und entartet das Leben und zuletzt auch
wieder, durch diese Entartung, selbst die Historie.] „Entartung“, „Degeneration“
und „Degenereszenz“ gehören zu den Schlagworten der Epoche, werden in
zahlreichen Publikationen thematisiert und setzen sich bis zum Decadence-
Diskurs des Fin de siede fort (vgl. dazu Jochen Schmidt 1985, 253-256, 261-
262; NK 1/1, 328-329). N. adaptiert die in der Biologie, Medizin und Psychologie
verbreitete Vorstellung der „Entartung“, um sie dann mit pointierendem Nach-
druck für die Schlusspassage des 2. Kapitels von UB II HL zu verwenden und
problematische Formen des Umgangs mit der Historie zu charakterisieren: So
nimmt N. das unangemessene Verhalten, das „der Antiquar ohne Pietät, der
Kenner des Grossen ohne das Können des Grossen“ zeigt (265, 1-2), zum An-
lass, diese Typen von Historikern mit biologistischer Metaphorik als „zum Un-
kraut aufgeschossene, ihrem natürlichen Mutterboden entfremdete und des-
halb entartete Gewächse“ zu bezeichnen (265, 2-4). Auch im 3. Kapitel von
UB II HL ist von „Entartung“ die Rede (268, 21). Die Opposition von Gesundheit
und Krankheit avanciert zuvor auch dort zu einer Leitvorstellung von N.s Kul-
turkritik, wo er die „Gesundheit eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur“
analogisiert (257, 31).
Mit seiner biologistisch akzentuierten Metaphorik greift N. auf einen Dis-
kurs zurück, der bereits seit 1870 in der zeitgenössischen Kultur eine auffällige
Präsenz erreicht hatte. Nicht nur in biologischen Kontexten, sondern auch im
 
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