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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0456
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430 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Bereich der Medizin, insbesondere im Fachgebiet der Neurologie, wurde „Ent-
artung“ als eine pathologische Abweichung beschrieben. Von zentraler Bedeu-
tung sind in diesem Zusammenhang Resultate der modernen Vererbungs- und
Degenerationsforschung, die in das Grundlagenwerk La Psychologie morbide
dans ses rapports avec la Philosophie de l’histoire ou de rinfluence des nevropa-
thies sur le dynamisme intellectuel (1859) des französischen Mediziners Jacques-
Joseph Moreau de Tours einmündeten und von dort aus eine breite Wirkung
entfalteten. Der Autor beschreibt genetisch bedingte neurologische Defekte,
die mit erhöhter Sensibilität und einem gesteigerten intellektuellen Potential
einhergehen und dadurch einerseits besondere kulturelle Leistungen in Kunst
und Wissenschaft ermöglichen, andererseits jedoch auch zu pathologischen
Symptomen führen und sogar zum Wahnsinn disponieren können. Auf die
Konzepte von Moreau de Tours greift Cesare Lombroso in seinem einflussrei-
chen, auf umfassenden pathographischen Forschungen basierenden Haupt-
werk Genio e follia (1864) zurück, das zusammen mit Publikationen anderer
Autoren zu ähnlichen Themen auch für N.s Reflexionen über „Entartung“ eine
wichtige Folie bildet und darüber hinaus der Literatur der Decadence maßgeb-
liche Impulse gab. Ein dreibändiges späteres Werk Lombrosos exponiert die
Thematik der „Entartung“ schon im Titel: Genio e degenerazione I-III (1894-
1907). Zum Diskurs über ,Genie und Wahnsinn4 vgl. Jochen Schmidt in NK 3/1,
92-94.
2.
258, 9-12 eine Dreiheit von Arten der Historie: sofern es erlaubt ist eine monu-
mentalische, eine antiquarische und eine kritische Art der Historie zu
unterscheiden] Der Differenzierung zwischen diesen Typen der Historie widmet
N. die weiteren Darlegungen im 2. und 3. Kapitel der Historienschrift. Aller-
dings kommt er auch in späteren Textpassagen von UBII HL wieder auf diese
grundlegende Spezifikation zurück. So entfaltet er im 10. Kapitel eine Zukunfts-
perspektive auf den Prozess der „Errettung von der historischen Krankheit“,
der es künftigen Generationen ermöglichen soll, „von Neuem Historie zu trei-
ben und sich der Vergangenheit unter der Herrschaft des Lebens, in jenem
dreifachem Sinne, nämlich monumental oder antiquarisch oder kritisch, zu be-
dienen“ (332, 17-23). Im Laufe der umfangreichen Rezeptionsgeschichte der
Historienschrift wurden sehr unterschiedliche Vorschläge gemacht, auf welche
Weise sich dieses triadische Grundkonzept der Historie mit den drei Zeitdimen-
sionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft korrelieren lässt. Zu den in der
Wirkungsgeschichte von UB II HL und im Forschungsdiskurs vorgeschlagenen
Deutungsvarianten vgl. ausführlich NK 332, 19-23. Vgl. auch NK 246, 25.
 
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