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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0471
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Stellenkommentar UB II HL 2, KSA 1, S. 261 445

sichtlich unter dem Eindruck von Jacob Burckhardts Werk Die Cultur der Re-
naissance in Italien. Ein Versuch (2. Aufl. 1869). Aus ihm übernimmt N. die
Vorstellung, dass die kulturprägenden Leistungen einer geringen Anzahl be-
deutender Persönlichkeiten zuzuschreiben sind, die sich durch ihr besonderes
Potential auszeichnen. Die geistesaristokratischen Prinzipien, die N. hier impli-
zit mit Burckhardt korreliert und in UB III SE auch aus Schopenhauers Schrift
Ueber die Universitäts-Philosophie ableitet (vgl. dazu Kapitel III.4 des Über-
blickskommentars zu UB III SE), bestimmen zugleich sein eigenes Bildungside-
al, seine Diagnose kultureller Decadence, die er durch den Mangel an echten
Erzieher-Persönlichkeiten wesentlich mitbedingt sieht, und seine ,unzeitge-
mäße4 Zukunftsprogrammatik. Diese Grundtendenz reicht von UB II HL und
UB III SE bis zu N.s Spätwerk Götzen-Dämmerung, in dem er die kulturelle Kri-
sensituation so charakterisiert: „Die Erzieher f e h 1 e n, die Ausnahmen der Aus-
nahmen abgerechnet, die e r s t e Vorbedingung der Erziehung: daher der Nie-
dergang der deutschen Cultur“ (KSA 6, 107, 15-17). Einen Sonderstatus spricht
N. diesbezüglich gerade Jacob Burckhardt zu, den er anschließend als singulä-
re kulturfördernde Erzieher-Persönlichkeit würdigt: „Eine jener allerseltensten
Ausnahmen ist mein verehrungswürdiger Freund Jakob Burckhardt in Basel:
ihm zuerst verdankt Basel seinen Vorrang von Humanität“ (KSA 6, 107, 18-20).
261, 11-18 wenn die Pythagoreer Recht hätten zu glauben, dass bei gleicher
Constellation der himmlischen Körper auch auf Erden das Gleiche [...] sich wie-
derholen müsse: so dass immer wieder [...] ein Stoiker sich mit einem Epikureer
verbinden [...] und immer wieder bei einem anderen Stande Columbus Amerika
entdecken wird] Mit den Stoikern und Epikureern nennt N. hier zwei der bedeu-
tendsten und wirkungsmächtigsten Philosophenschulen der Antike, die gegen-
sätzliche Konzepte und Lebenshaltungen vertraten. Die Stoiker betonten einen
ganzheitlichen Weltzusammenhang und formulierten vor diesem Hintergrund
eine programmatische Tugendethik mit asketischen Zügen: Der stoischen Leh-
re zufolge soll der Mensch sein Schicksal mit Gelassenheit akzeptieren und den
leidenschaftslosen Zustand der Apathie anstreben. In diesem Sinne propagier-
ten die Stoiker die später zum Topos gewordene ,stoische4 Beständigkeit oder
Charakterstärke (constantia) sowie eine Ruhe des Geistes (tranquillitas animi).
Außerdem betonten sie die Verantwortung des Individuums für das Gemeinwe-
sen. - Die Epikureer, also die Anhänger des Philosophen Epikur (ca. 341 -
271/270 v. Chr.), konzentrierten sich hingegen auf das Wohlbefinden, auf die
Befreiung von Schmerz und auf eine maßvolle ,Lust4. Zugleich kultivierten sie
den Rückzug ins Privatleben (in den ,Garten4) und soziale Harmonie im Kreise
einer überschaubaren Gruppe von Freunden. Oft wurden die Epikureer durch
einseitige Polemik ihrer Gegner zu Unrecht diskreditiert: Vor allem Vertreter
 
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