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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0472
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446 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

des Stoizismus und des Christentums unterstellten ihnen, sie seien primär an
Lustmaximierung interessiert - auch im Sinne hemmungsloser Libertinage.
Die spannungsreiche Konstellation zwischen Stoikern und Epikureern wur-
de in der Wirkungsgeschichte dieser philosophischen Schulen oft vorschnell
zu einer strikten Opposition verschärft, obwohl es durchaus aufschlussreiche
Interferenzen zwischen beiden Richtungen und vielfach sogar harmonisieren-
de Ausgleichsbestrebungen gab, die von der Absicht bestimmt waren, beide
Lebenshaltungen miteinander zu „verbinden“ (261, 16), wie N. sagt. Als promi-
nentester Versuch einer philosophischen Synthese ist wohl derjenige anzuse-
hen, den Seneca in seinem Hauptwerk Epistulae morales ad Lucilium unter-
nimmt, in dem er die stoische Grundhaltung mit epikureischen Elementen
synthetisiert. Daran scheint N. hier gedacht zu haben. - Zur facettenreichen
Wirkungsgeschichte des Stoizismus (auch im komplexen Wechselverhältnis
mit konkurrierenden geistigen Strömungen) vgl. das zweibändige Sammelwerk
Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine
Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne (Hg. Neymeyr/Schmidt/Zim-
mermann 2008a). Einen einleitenden Überblick zu den Basiskonzepten der
Stoa und ihren späteren Transformationen bietet Jochen Schmidt 2008, Bd. 1,
3-133. Zu N.s kritischer Argumentation gegen den Stoizismus vgl. Neymeyr
2008c, Bd. 2, 1165-1198.
Das zyklische Geschichtsmodell, das N. in der vorliegenden Textpassage
den Pythagoreern zuschreibt und hier durch die identische Wiederholung kon-
kreter historischer Ereignisse selbst mit ironischem Unterton exemplifiziert
(261, 9-26), entspricht zugleich auch der stoischen Naturphilosophie. Zu ihr
gehörte die kosmologische Vorstellung, die alte Weltordnung werde in einem
bestimmten zeitlichen Rhythmus jeweils durch einen Weltbrand, die Ekpyro-
sis, vernichtet; dann folge ihr eine neue Weltordnung, in der das Vergangene
wiederkehre. Dieses Geschichtskonzept reicht bis zu N.s Vorstellung vom ,Ring
der ewigen Wiederkunft4, den er in seiner Spätschrift Ecce homo retrospektiv
folgendermaßen beschreibt: „Die Lehre von der ,ewigen Wiederkunft4, das
heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge -
diese Lehre Zarathustra’s könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt wor-
den sein. Zum Mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vor-
stellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon“ (KSA 6, 313, 7-12). Vgl. auch
NK 506, 29 - 507, 3.
261,18-25 Nur wenn die Erde ihr Theaterstück jedesmal nach dem fünften Akt
von Neuem anflenge, wenn es feststünde, dass dieselbe Verknotung von Motiven,
derselbe deus ex machina, dieselbe Katastrophe in bestimmten Zwischenräumen
wiederkehrten, dürfte der Mächtige die monumentale Historie in voller ikonischer
Wahrhaftigkeit [...] begehren.] In der Tradition der fünfaktigen Tragödie
 
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