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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0480
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454 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

ein. Aufgrund seiner Präferenz für das große Individuum, das Genie und den
Helden imaginiert N. einen „Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende“
(259,13-14) und betont dabei den Glauben an eine historische „Continuität des
Grossen aller Zeiten“ - auch als „Protest gegen [...] die Vergänglichkeit“ (260,
20-22).
Auf die Konjunktur der Denkmäler, die sich im Zusammenhang mit einer
historisierenden nationalen Erinnerungskultur seit dem 19. Jahrhundert aus-
prägte, nimmt auch Robert Musil in seinem Nachlaß zu Lebzeiten (1936) Bezug:
Im Kapitel „Unfreundliche Betrachtungen“, das nicht nur durch seinen Titel,
sondern auch durch kulturkritische Reflexionen auf N.s Unzeitgemässe Be-
trachtungen verweist, inszeniert der Kurzprosa-Text Denkmale (vgl. Musil 1978,
Bd. II, 506-509) satirische Perspektiven auf Denkmäler prominenter Persön-
lichkeiten. Vor dem Hintergrund der Historismus-Problematik werden die
„über ganz Deutschland verbreiteten Bismarckdenkmäler“ erwähnt und iro-
nisch dem „Verein“ der „energischen Denkmäler“ zugerechnet (Musil 1978,
Bd. II, 507). Zu den Affinitäten zwischen den essayistischen Zeitdiagnosen von
N. und Musil vgl. im Überblickskommentar die Musil-Passage in Kapitel II.8
zur Rezeption und Wirkungsgeschichte von UBII HL. - Wie in UBII HL die Emp-
findung ,,Goethe[s] vor dem Denkmale Erwin’s von Steinbach“ die historische
Distanz überbrückt, so inszeniert in Musils Nachlaß zu Lebzeiten der Kurzprosa-
Text Sarkophagdeckel eine Vergegenwärtigung des Vergangenen: Der Blick auf
die im Relief abgebildeten Figuren ermöglicht im Zeitsprung über „zweitau-
send Jahre“ (Musil 1978, Bd. II, 486) eine empathische Wahrnehmung von be-
sonderer Intensität. - Im Text Denkmale, der dritten von Musils „Unfreundli-
chen Betrachtungen“, hingegen wird der Anspruch von Denkmälern auf
Präsenz im kollektiven Gedächtnis ironisch konterkariert: „Alles Beständige
büßt seine Eindruckskraft ein“ (ebd., 507); die Denkmäler „entziehen sich un-
seren Sinnen“ (ebd., 507) mithin gerade durch ihre kontinuierliche Präsenz.
Aufgrund bewusstseinspsychologischer Konditionen scheinen sie mithin „ge-
gen Aufmerksamkeit imprägniert“ zu sein (ebd., 506). Wenn die Denkmäler
dadurch allerdings in geschichtslose Anonymität geraten und für Passanten
bloß noch als Orientierungspunkt fungieren (vgl. ebd., 507), dann scheint gera-
de solche Zweckentfremdung den von N. postulierten Primat des Lebens ge-
genüber der Historie auf ironisch-hintergründige Weise zu verwirklichen:
durch pragmatische Funktionen außerhalb kulturgeschichtlicher Memoria
(vgl. dazu Neymeyr 2017/18, 89-97 und NK 264, 15-20).
266, 8-10 zu einem „wundersamen Weiterklingen des uralten Saitenspiels“, wie
Jacob Burckhardt sagt] Das Zitat stammt aus Jacob Burckhardts Werk Die Cultur
der Renaissance in Italien. Ein Versuch (1860), 2. Aufl. 1869, 200. Am 25. Februar
1874 bedankte sich Jacob Burckhardt bei N. mit einem Brief für die Zusendung
 
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