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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0504
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478 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

erhellt insbesondere aus der Definition von Kultur, die sich sowohl in UB I DS
als auch in UB II HL findet: In UB I David Strauss der Bekenner und der Schrift-
steller kritisiert N. die Deutschen, die den militärischen Sieg im deutsch-franzö-
sischen Krieg 1870/71 mit einem „Siege der deutschen Bildung und Kultur“
verwechseln und damit zu erkennen geben, „dass in Deutschland der reine
Begriff der Kultur verloren gegangen ist“ (KSA 1,162, 34 - 163, 2). Und N. fährt
fort: „Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäus-
serungen eines Volkes. Vieles Wissen und Gelernthaben ist aber weder ein
nothwendiges Mittel der Kultur, noch ein Zeichen derselben und verträgt sich
nöthigenfalls auf das beste mit dem Gegensätze der Kultur, der Barbarei, das
heisst: der Stillosigkeit oder dem chaotischen Durcheinander aller Stile“
(KSA 1, 163, 3-8). Auf diese Charakterisierung genuiner Kultur in UB I DS be-
ruft sich N. in seiner Historienschrift, wenn er mit der „Barbarei“ in Gestalt
moderner Heterogenität die „Cultur eines Volkes“ kontrastiert und diese „als
Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“ be-
schreibt (274, 26-29). Insofern unterscheiden sich N.s Einschätzungen grundle-
gend von kulturwissenschaftlichen Konzepten des 20. und 21. Jahrhunderts,
die vorschnellen Einheitspostulaten die Auffassung entgegenhalten, Kultur sei
als Spannungsgefüge aus heterogenen Elementen zu begreifen und fordere da-
her zur Akzeptanz auch des Fremden heraus (vgl. z. B. Klaus Berger 1996, 92,
94, 106).
278, 6 Der Instinct des Volkes] Der Instinkt-Begriff weist auf das 5. Kapitel vo-
raus, in dem N. „die Instincte des Volkes“ (279, 9) und die „Austreibung der
Instincte durch Historie“ (280, 28) thematisiert, durch die er „die Menschen
fast zu lauter abstractis und Schatten“ degenerieren sieht (280, 28-29). Bereits
in der Geburt der Tragödie verbindet N. die eigentlich kreative Dimension gera-
de mit dem „Instinct“ und dem Bereich des Unbewussten. In diesem Zusam-
menhang wendet er sich kritisch gegen einen Primat von Bewusstsein und
rationaler Erkenntnis, den er an Sokrates und den modernen „Abstractionen“
glaubt diagnostizieren zu können: „Während doch bei allen productiven Men-
schen der Instinct gerade die schöpferisch-affirmative Kraft ist, und das Be-
wusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der In-
stinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer - eine wahre Monstrosität
per defectum!“ (KSA 1, 90, 24-28). Zu N.s Sokrates-Bild vgl. die Monographie
von Hermann Josef Schmidt 1969.
278, 27-33 so soll hier ausdrücklich mein Zeugniss stehen, dass es die deut-
sche Einheit in jenem höchsten Sinne ist, die wir erstreben und heisser erstre-
ben als die politische Wiedervereinigung, die Einheit des deutschen
Geistes und Lebens nach der Vernichtung des Gegensatzes von
 
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