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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0520
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494 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

ehe. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich [...] da-
durch, daß der eine das Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen
könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Ge-
schichtsschreibung“ (Aid Kai ipiÄoaoipcüTEpov Kai anovöaioTEpov noipaiq
ioTopiaq eotlv: 1451 b 5-6).
Dieser Aristotelischen Differenzierung gemäß konstatiert N., das aus dem
„Innern des Künstlers“ hervorgehende Resultat sei „ein künstlerisch wahres,
nicht ein historisch wahres Gemälde“ (290, 13-15). Und er fährt fort: „In dieser
Weise die Geschichte objectiv denken ist die stille Arbeit des Dramatikers“
(290,16-17). - Aristoteles stellt in seiner Poetik die Tragödie ins Zentrum. Wenn
N. den ,Dramatiker4 thematisiert, meint er wohl vor allem Schiller und seine
Geschichtsdramen. Dafür spricht auch, dass N. wenig später mit einem wörtli-
chen Zitat auf Schillers Geschichtskonzeption Bezug nimmt. Vgl. NK 291, 12-
18. Bereits Herder korreliert Geschichte und dramatische Kunst, und zwar vor
allem in seiner Schrift Shakespear. Damit leistet er einer idealistischen Ästheti-
sierung der Geschichtsschreibung Vorschub, die seit 1800 nicht nur auf die
Historie selbst Einfluss hatte, sondern sich zugleich auch auf die Gestaltung
der zahlreichen Geschichtsdramen und Geschichtsromane auswirkte. Darüber
hinaus führte sie zu theoretischen Reflexionen, die sich mit dem Verhältnis
zwischen Historie und Poesie auseinandersetzten.
Die schon im vorliegenden Kontext von UB II HL hervortretende Auffas-
sung von der Konstruktion der Geschichte, nämlich durch strategische Fiktio-
nalisierung mithilfe eines „Kunsttrieb[s]“ (290, 21), führt N. später im Text 307
der Morgenröthe weiter, um sie dort folgendermaßen zuzuspitzen: „Facta! Ja
Facta ficta! - Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich
geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu thun: denn
nur diese haben gewirkt“ (KSA 3, 224, 26-29). In diesem Sinne reduziert sich
der Realitätsgehalt der ,,sogenannte[n] Weltgeschichte“ (KSA 3, 224, 30) laut
N. auf reine Imagination: auf den „Dampf“ aus „vermeintliche[n] Handlungen
und deren vermeintliche[n] Motive[n]“, die bloßen „Phantomen über den tiefen
Nebeln der unergründlichen Wirklichkeit“ gleichen (KSA 3, 225, 1-6). Die reale
Substanz der Historie löst N. dann mit einer provokativen Schlusspointe ganz
ins Phantasmagorische auf: „Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie exis-
tirt haben, äusser in der Vorstellung“ (KSA 3, 225, 6-7). In diesem Sinne bean-
standet N. 1887 in einem moralkritischen Nachlass-Notat selbst die in UB II HL
(zugunsten lebensfördernder Zwecke) noch von ihm goutierte „Fälschung der
Historie“ (NL 1887, 7 [8], KSA 12, 293) und formuliert darüber hinaus sogar die
skeptische Frage, „ob Geschichte überhaupt möglich ist?“ (KSB8, Nr. 804,
S. 28). Vgl. auch die ausführliche Problematisierung von N.s Tendenz zur Fik-
tionalisierung historischer Faktizität in Kapitel II.9 (Abschnitt 5) im Überblicks-
kommentar.
 
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