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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0519
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Stellenkommentar UB II HL 6, KSA 1, S. 288-290 493

kenntniß der Idee geschieht plötzlich, indem die Erkenntniß sich vom Dienste
des Willens losreißt, eben dadurch das Subjekt aufhört ein bloß individuelles
zu seyn und jetzt reines, willenloses Subjekt der Erkenntniß ist“, das in der
„Kontemplation“ des Objekts „ruht und darin aufgeht“ (WWVI, § 34, Hü 209-
210). Wenn man „sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert, d. h. eben sein
Individuum, seinen Willen, vergißt und nur noch als reines Subjekt, als klarer
Spiegel des Objekts bestehend bleibt“, so dass „das Objekt aus aller Relation
zu etwas außer ihm, das Subjekt aus aller Relation zum Willen getreten ist:
dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als solches;
sondern es ist die Idee, die ewige Form“, und der Kontemplierende selbst ist
„reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniß“
(WWV I, § 34, Hü 210-211).
Die Szenerie, die N. anschließend entwirft, wenn er den „Maler in einer
stürmischen Landschaft, unter Blitz und Donner oder auf bewegter See, sein
inneres Bild“ im Zustand ästhetischer Kontemplation schauen lässt (290, 2-4),
entspricht den Topoi des Naturerhabenen, die Kant in der Kritik der Urtheils-
kraft und Schopenhauer in der Welt als Wille und Vorstellung ausführlich dar-
stellen. (Zur Entwicklung von N.s Denken von der ästhetischen Metaphysik sei-
ner Tragödienschrift zur späteren Physiologie der Kunst vgl. Volker Gerhardt
1984, 374-393.)
290, 12-21 der kräftigste und selbstthätigste Zeugungsmoment im Innern des
Künstlers [...] ein Compositionsmoment allerhöchster Art, dessen Resultat wohl
ein künstlerisch wahres, nicht ein historisch wahres Gemälde sein wird. In dieser
Weise die Geschichte objectiv denken ist die stille Arbeit des Dramatikers; näm-
lich alles aneinander denken, das Vereinzelte zum Ganzen weben: überall mit
der Voraussetzung, dass eine Einheit des Planes in die Dinge gelegt werden müs-
se, wann sie nicht darinnen sei. So überspinnt der Mensch die Vergangenheit und
bändigt sie, so äussert sich sein Kunsttrieb] Diese Aussage weist auf einen Pas-
sus in Grillparzers kleiner Abhandlung Ueber den Nutzen des Studiums der Ge-
schichte hin, den N. wenig später zitiert (290, 27 - 291, 7). Die vorliegende
Textpassage zeigt, dass N. hier eine von Wagner inspirierte Einschätzung zum
Ausdruck bringt, die er schon in der Geburt der Tragödie sowie in zahlreichen
nachgelassenen Notaten aus dieser Zeit formuliert hat: dass die Kunst höher
stehe als die Wissenschaft. Durch die Abwertung der Wissenschaft, als deren
Paradigma N. hier die Geschichtswissenschaft nennt, soll der Vorrang des
Künstlers und der Kunst gesichert werden. Zugleich ist für die Argumentation
hier auch die von N. sonst weitgehend abgelehnte Aristotelische Poetik rele-
vant. Aristoteles erklärt, dass es „nicht Sache des Dichters ist mitzuteilen, was
wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das un-
ter dem Gesichtspunkt der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit Mögli-
 
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