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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0532
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506 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

der Geschichte im Zusammenhang mit Darlegungen zu den „großen Individu-
en“ und den tragisch-heldenhaften Gestalten der griechischen Geschichte er-
klärt: „Plutarch entwirft uns ein höchst charakteristisches Gemälde dieser Zei-
ten, indem er eine Vorstellung von der Bedeutung der Individuen in denselben
gibt“ (G. W. F. Hegel: Werke in 20 Bänden, 1986, Bd. 12, 337).
7.
296, 5-8 Eine Religion zum Beispiel, die in historisches Wissen, unter dem Wal-
ten der reinen Gerechtigkeit, umgesetzt werden soll, eine Religion, die durch und
durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich
vernichtet.] Diese destruktive Wirkung einer rein historischen Betrachtung für
die Religion begründet N. mit dem Verlust der lebensnotwendigen „pietätvol-
le[n] Illusions-Stimmung“ (296,11). Seines Erachtens ist mit einer „historischen
Nachrechnung“ ein Desillusionierungseffekt verbunden, da auf diese Weise
„viel Falsches, Rohes, Unmenschliches“ zutage tritt (296, 9-10). In einem nach-
gelassenen Notat aus der Entstehungszeit von UBII HL vertritt N. eine markan-
tere religionskritische Position, indem er programmatisch erklärt: „Das Chris-
tenthum ist ganz der kritischen Historie preiszugeben“ (NL 1873, 29 [203],
KSA 7, 711). Bereits zwei Jahre früher reflektiert er in einem anderen Notat über
kulturgeschichtliche Entwicklungen im Spannungsfeld von Mythos, Kunst und
Religion: „Feindschaft des Christenthums gegen die Kunst: es hält sie in den
Schranken des Symbols. / Endlich siegt die Kunst: die historischen Thatsachen
werden in freies Mythenwesen aufgelöst, mit ewigem Weiterleben derselben
Kräfte. Damit ist aber das Christenthum überwunden und giebt keinen Halt
mehr“ (NL 1871, 9 [58], KSA 7, 296). Ähnlich wie N. äußerte sich auch der mit
ihm befreundete Kirchenhistoriker Franz Overbeck über die zerstörerischen
Folgen eines geschichtswissenschaftlichen Zugriffs auf die Religion. Sein Werk
Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. Streit- und Friedensschrift
entstand in derselben Zeitphase wie UB I DS und erschien 1873 auch gleichzei-
tig mit N.s Schrift. Beide Werke setzen sich kritisch mit David Friedrich Strauß
auseinander. Laut Overbeck schließt das Christentum jegliches Wissen aus; da-
her hält er eine christliche Theologie4 für unmöglich. Infolgedessen hätte auch
„eine apologetische Theologie, wenn von ihr das Christentum wissenschaftlich
bewiesen wäre, es als Religion vernichtet“ (Overbeck: Werke und Nachlaß,
1994-2010, Bd. 1, 179). Vgl. ergänzend die horizontbildenden Hintergründe zur
Kulturgeschichte der Religionskritik in NK 296, 30-34 und NK 297, 26-31.
296,17-21 In solchen Wirkungen ist der Historie die Kunst entgegengesetzt: und
nur wenn die Historie es erträgt, zum Kunstwerk umgebildet, also reines Kunstge-
 
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