Stellenkommentar WL 1, KSA 1, S. 877-878 39
kunft", die „auf den usuellen Gebrauch von Metaphern gegründet" ist (NL
1872/73, KSA 7, 19[229], 491, 25-27). N. nennt mit den „beliebigen Vertauschun-
gen oder gar Umkehrungen der Namen" (877, 34-878, 1) zwei Formen solcher
Abweichungen, hinter denen sich die rhetorischen Figuren der Metonymie und
Inversion verbergen. Damit bezieht er sich indirekt auf eine in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland rege geführte äs-
thetisch-poetologische Debatte über eine natürliche Ordnung der Sprache und
bereitet zugleich in WL eine Interpretation des Lügners als eines Künstlers und
Dichters vor, der die bewegliche Konstitution der Sprache offenlegt.
878, 5-10 Sie hassen auch auf dieser Stufe im Grunde nicht die Täuschung,
sondern die schlimmen, feindseligen Folgen gewisser Gattungen von Täuschun-
gen. In einem ähnlichen beschränkten Sinne will der Mensch auch nur die Wahr-
heit. Er begehrt die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit;} In
einer Nachlass-Notiz expliziert N. den psychoempirischen Vorgang des Vorweg-
nehmens von Folgen: „Man anticipirt die schlimmen Folgen gegenseitiger Lü-
gen. Von hier aus entsteht die Pflicht der Wahrheit. [...] wo die Lüge
als angenehm gilt, ist sie erlaubt" (NL 1872/73, KSA 7, 19[97], 451, 22-26; vgl.
KSA 7, 19[253], 498-499). Begriff und Konzept des Antizipierens, der unbewuss-
ten Verstandesoperationen, die jeder moralischen Handlung zugrundeliegen,
übernimmt N. aus Zöllners Über die Natur der Cometen. Zöllner führt hier die
Helmholtzsche Theorie der unbewussten Schlüsse (vgl. die Ausführungen zu
Helmholtz im Kapitel zu N.s „Quellen") auf Schopenhauer zurück und begrün-
det sie mit einem unbewussten Bedürfnis nach Kausalität. N. führt diesen Ge-
danken weiter, indem er die mit dem unbewussten Schließen verbundene Lust
zum Antrieb für immer neue Erkenntnis erklärt (vgl. Orsucci 1994a, 199-200).
878, 14-16 decken sich die Bezeichnungen und die Dinge? Ist die Sprache der
adäquate Ausdruck aller Realitäten?] Die Frage nach dem Charakter der äußer-
moralischen Wahrheit wiederholt sich in Form der sprachphilosophischen
Grundfrage nach einer adaequatio, einer Übereinstimmung zwischen Wort und
gegenständlicher Welt. Schon Platon stellt bekanntermaßen im Kratylos mit
den Gesprächspartnern Kratylos und Hermogenes zwei verschiedene Thesen
einander gegenüber, ob sprachliche Bezeichnungen nämlich von Natur aus
(physei, 383b) eine Richtigkeit besitzen oder auf bloßer Übereinkunft und ver-
tragsmäßiger Vereinbarung (nömos, 384d bzw. thesei) beruhen (zur Erklärung
des Ursprungs der Sprache aus Konvention vgl. NK 877, 25-28; ausführlich
dazu Gerber 1871, 130-131, der v. a. Heymann Steinthal: Geschichte der Sprach-
wissenschaft bei den Griechen und Römern, mit besonderer Rücksicht auf die
Logik, Berlin 1863, und Der Ursprung der Sprache, im Zusammenhange mit den
letzten Fragen alles Wissens, Berlin 1851, referiert). Die alte Streitfrage wird
kunft", die „auf den usuellen Gebrauch von Metaphern gegründet" ist (NL
1872/73, KSA 7, 19[229], 491, 25-27). N. nennt mit den „beliebigen Vertauschun-
gen oder gar Umkehrungen der Namen" (877, 34-878, 1) zwei Formen solcher
Abweichungen, hinter denen sich die rhetorischen Figuren der Metonymie und
Inversion verbergen. Damit bezieht er sich indirekt auf eine in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland rege geführte äs-
thetisch-poetologische Debatte über eine natürliche Ordnung der Sprache und
bereitet zugleich in WL eine Interpretation des Lügners als eines Künstlers und
Dichters vor, der die bewegliche Konstitution der Sprache offenlegt.
878, 5-10 Sie hassen auch auf dieser Stufe im Grunde nicht die Täuschung,
sondern die schlimmen, feindseligen Folgen gewisser Gattungen von Täuschun-
gen. In einem ähnlichen beschränkten Sinne will der Mensch auch nur die Wahr-
heit. Er begehrt die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit;} In
einer Nachlass-Notiz expliziert N. den psychoempirischen Vorgang des Vorweg-
nehmens von Folgen: „Man anticipirt die schlimmen Folgen gegenseitiger Lü-
gen. Von hier aus entsteht die Pflicht der Wahrheit. [...] wo die Lüge
als angenehm gilt, ist sie erlaubt" (NL 1872/73, KSA 7, 19[97], 451, 22-26; vgl.
KSA 7, 19[253], 498-499). Begriff und Konzept des Antizipierens, der unbewuss-
ten Verstandesoperationen, die jeder moralischen Handlung zugrundeliegen,
übernimmt N. aus Zöllners Über die Natur der Cometen. Zöllner führt hier die
Helmholtzsche Theorie der unbewussten Schlüsse (vgl. die Ausführungen zu
Helmholtz im Kapitel zu N.s „Quellen") auf Schopenhauer zurück und begrün-
det sie mit einem unbewussten Bedürfnis nach Kausalität. N. führt diesen Ge-
danken weiter, indem er die mit dem unbewussten Schließen verbundene Lust
zum Antrieb für immer neue Erkenntnis erklärt (vgl. Orsucci 1994a, 199-200).
878, 14-16 decken sich die Bezeichnungen und die Dinge? Ist die Sprache der
adäquate Ausdruck aller Realitäten?] Die Frage nach dem Charakter der äußer-
moralischen Wahrheit wiederholt sich in Form der sprachphilosophischen
Grundfrage nach einer adaequatio, einer Übereinstimmung zwischen Wort und
gegenständlicher Welt. Schon Platon stellt bekanntermaßen im Kratylos mit
den Gesprächspartnern Kratylos und Hermogenes zwei verschiedene Thesen
einander gegenüber, ob sprachliche Bezeichnungen nämlich von Natur aus
(physei, 383b) eine Richtigkeit besitzen oder auf bloßer Übereinkunft und ver-
tragsmäßiger Vereinbarung (nömos, 384d bzw. thesei) beruhen (zur Erklärung
des Ursprungs der Sprache aus Konvention vgl. NK 877, 25-28; ausführlich
dazu Gerber 1871, 130-131, der v. a. Heymann Steinthal: Geschichte der Sprach-
wissenschaft bei den Griechen und Römern, mit besonderer Rücksicht auf die
Logik, Berlin 1863, und Der Ursprung der Sprache, im Zusammenhange mit den
letzten Fragen alles Wissens, Berlin 1851, referiert). Die alte Streitfrage wird