48 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
in der Erkenntniss der Wirklichkeit (Leipzig 1869) gemacht haben, wo Spir u. a.
Kritik am Kantschen synthetischen Urteil übt (Tomatis 2006, 128; vgl. auch
Fazio 1986-1989).
880, 7-8 Urform] Das auch in GT prominente ,ur'-Präfix zeigt den Rückgang
auf ein originäres Erleben an, das wie das Erleben des Sprachbildners nur in
übertragenen Lautbildern dargestellt werden kann. Spielarten in WL sind das
„Urerlebniss" (879, 32), „Urbild[es]" (883, 19), der „Urklang[es]" (883, 18), das
„Urvermögen" (883, 27) oder „ursprünglich[en]" (879, 22). Der Zugang zu die-
sem Urgrund jeder Erfahrbarkeit ist durch die menschliche Perzeptionsweise
bestimmt und ist zugleich Grundlage für die Bildung von ,Formen'. Dieser Ur-
grund hält folglich die Elemente der Intuition und deren mögliche Übertragun-
gen in einen Ausdruck bereit, die sich im Laufe der Zeit sedimentieren. Den
Gedanken, dass diese Entwicklung des sprachlichen Artikulationsvermögens
nicht nur mit einem Individualitätsverlust des Objekts einhergeht, sondern im
Zuge der Subjektwerdung das eigentlich Individuelle auch des Subjekts sich
diesem unbewusst entzieht, konnte N. auch bei Gerber ausgesprochen finden
(vgl. Kalb 2000, 144-166). Die Aufgabe der Philologie - und womöglich auch
der Philosophie - könnte für N. deshalb darin bestehen, Licht auf diese ver-
hüllte Prä-Ebene zu werfen, wie Cosima Wagner (1976, Bd. 1, 170) schon Jahre
vor WL in ihrem Tagebuch festhält: „Abends sprechen R. und Pr. Nietzsche
über die ersten Begriffe der Sprache, was ersterer scherzhaft Urphilologie trei-
ben nennt". Die von einer solchen Philologie aufzuspürenden Urformen sind
regulative Fiktionen für die Konstruktion von Erfahrung.
880, 19 qualitas occulta] Lat. für: ,verborgene Eigenschaft'. Mit der Genese
des Begriffs wird eine vermeintliche „Urform" (880, 7-8), eine „wesenhafte[n]
Qualität" (880, 15) abstrahiert. Sie ist kleinster gemeinsamer Nenner von wahr-
genommenen Dingen oder Handlungen, die aufgrund des Metapherntriebes
des Menschen als ähnlich erkannt werden bzw. denen Ähnlichkeit unterstellt
wird. Um sich in der Welt zurechtzufinden, orientiert sich der Mensch an die-
sen Abstraktionen so, dass er sie in einer metonymischen Denkbewegung als
eigentliche Ursache der auf ihn einströmenden individuellen Bilder nimmt.
Diese erscheinen nun als „Abbild" (880, 10) einer im Verborgenen (im ,Okkul-
ten') liegenden Wesenheit, die nichts anderes ist als das „,Ding an sich'" (879,
6). N. bezweckt hier aber noch anderes. Spricht man von der Qualität eines
Dings, dann ist dessen Funktion, d. h. sein relationaler Wert gemeint: „Eine
Qualität existirt für uns d. h. gemessen an uns. Ziehen wir das Maaß weg,
was ist dann noch Qualität!" (NL 1872/73, KSA 7, 19[156], 468, 9-11) Die qualita-
tes occultae sind also nicht nur insofern ganz anthropomorphe Kategorien, als
sie im individuellen Erleben wurzeln, sondern auch insofern, als gerade sie der
in der Erkenntniss der Wirklichkeit (Leipzig 1869) gemacht haben, wo Spir u. a.
Kritik am Kantschen synthetischen Urteil übt (Tomatis 2006, 128; vgl. auch
Fazio 1986-1989).
880, 7-8 Urform] Das auch in GT prominente ,ur'-Präfix zeigt den Rückgang
auf ein originäres Erleben an, das wie das Erleben des Sprachbildners nur in
übertragenen Lautbildern dargestellt werden kann. Spielarten in WL sind das
„Urerlebniss" (879, 32), „Urbild[es]" (883, 19), der „Urklang[es]" (883, 18), das
„Urvermögen" (883, 27) oder „ursprünglich[en]" (879, 22). Der Zugang zu die-
sem Urgrund jeder Erfahrbarkeit ist durch die menschliche Perzeptionsweise
bestimmt und ist zugleich Grundlage für die Bildung von ,Formen'. Dieser Ur-
grund hält folglich die Elemente der Intuition und deren mögliche Übertragun-
gen in einen Ausdruck bereit, die sich im Laufe der Zeit sedimentieren. Den
Gedanken, dass diese Entwicklung des sprachlichen Artikulationsvermögens
nicht nur mit einem Individualitätsverlust des Objekts einhergeht, sondern im
Zuge der Subjektwerdung das eigentlich Individuelle auch des Subjekts sich
diesem unbewusst entzieht, konnte N. auch bei Gerber ausgesprochen finden
(vgl. Kalb 2000, 144-166). Die Aufgabe der Philologie - und womöglich auch
der Philosophie - könnte für N. deshalb darin bestehen, Licht auf diese ver-
hüllte Prä-Ebene zu werfen, wie Cosima Wagner (1976, Bd. 1, 170) schon Jahre
vor WL in ihrem Tagebuch festhält: „Abends sprechen R. und Pr. Nietzsche
über die ersten Begriffe der Sprache, was ersterer scherzhaft Urphilologie trei-
ben nennt". Die von einer solchen Philologie aufzuspürenden Urformen sind
regulative Fiktionen für die Konstruktion von Erfahrung.
880, 19 qualitas occulta] Lat. für: ,verborgene Eigenschaft'. Mit der Genese
des Begriffs wird eine vermeintliche „Urform" (880, 7-8), eine „wesenhafte[n]
Qualität" (880, 15) abstrahiert. Sie ist kleinster gemeinsamer Nenner von wahr-
genommenen Dingen oder Handlungen, die aufgrund des Metapherntriebes
des Menschen als ähnlich erkannt werden bzw. denen Ähnlichkeit unterstellt
wird. Um sich in der Welt zurechtzufinden, orientiert sich der Mensch an die-
sen Abstraktionen so, dass er sie in einer metonymischen Denkbewegung als
eigentliche Ursache der auf ihn einströmenden individuellen Bilder nimmt.
Diese erscheinen nun als „Abbild" (880, 10) einer im Verborgenen (im ,Okkul-
ten') liegenden Wesenheit, die nichts anderes ist als das „,Ding an sich'" (879,
6). N. bezweckt hier aber noch anderes. Spricht man von der Qualität eines
Dings, dann ist dessen Funktion, d. h. sein relationaler Wert gemeint: „Eine
Qualität existirt für uns d. h. gemessen an uns. Ziehen wir das Maaß weg,
was ist dann noch Qualität!" (NL 1872/73, KSA 7, 19[156], 468, 9-11) Die qualita-
tes occultae sind also nicht nur insofern ganz anthropomorphe Kategorien, als
sie im individuellen Erleben wurzeln, sondern auch insofern, als gerade sie der