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Zeichen der Dienstbarkeit von sich geworfen: sonst mit trüb-
sinniger Geschäftigkeit bemüht, einem armen Individuum, dem
es nach Dasein gelüstet, den Weg und die Werkzeuge zu zeigen
und wie ein Diener für seinen Herrn auf Raub und Beute aus-
ziehend ist er jetzt zum Herrn geworden und darf den Ausdruck
der Bedürftigkeit aus seinen Mienen wegwischen. Was er jetzt
auch thut, Alles trägt im Vergleich mit seinem früheren Thun die
Verstellung, wie das frühere die Verzerrung an sich. Er copirt das
Menschenleben, nimmt es aber für eine gute Sache und scheint mit
ihm sich recht zufrieden zu geben. Jenes ungeheure Gebälk und
Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige
Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen In-
tellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten
Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, iro-
nisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das
Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der
Bedürftigkeit nicht braucht, und dass er jetzt nicht von Begriffen
sondern von Intuitionen geleitet wird. Von diesen Intuitionen aus
führt kein regelmässiger Weg in das Land der gespenstischen
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Schemata, der Abstraktionen: für sie ist das Wort nicht gemacht,
der Mensch verstummt, wenn er sie sieht, oder redet in lauter
verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen, um
wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Be-
griffsschranken dem Eindrücke der mächtigen gegenwärtigen In-
tuition schöpferisch zu entsprechen.
Es giebt Zeitalter, in denen der vernünftige Mensch und der
intuitive Mensch neben einander stehen, der eine in Angst vor der
Intuition, der andere mit Hohn über die Abstraction; der letztere
eben so unvernünftig, als der erstere unkünstlerisch ist. Beide be-
gehren über das Leben zu herrschen: dieser, indem er durch Vor-
sorge, Klugheit, Regelmässigkeit den hauptsächlichsten Nöthen
zu begegnen weiss, jener indem er als ein „überfroher Held" jene
Nöthe nicht sieht und nur das zum Schein und zur Schönheit ver-
stellte Leben als real nimmt. Wo einmal der intuitive Mensch,
etwa wie im älteren Griechenland seine Waffen gewaltiger und
siegreicher führt, als sein Widerspiel, kann sich günstigen Falls
eine Kultur gestalten, und die Herrschaft der Kunst über das
Leben sich gründen; jene Verstellung, jenes Verläugnen der Be-
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Zeichen der Dienstbarkeit von sich geworfen: sonst mit trüb-
sinniger Geschäftigkeit bemüht, einem armen Individuum, dem
es nach Dasein gelüstet, den Weg und die Werkzeuge zu zeigen
und wie ein Diener für seinen Herrn auf Raub und Beute aus-
ziehend ist er jetzt zum Herrn geworden und darf den Ausdruck
der Bedürftigkeit aus seinen Mienen wegwischen. Was er jetzt
auch thut, Alles trägt im Vergleich mit seinem früheren Thun die
Verstellung, wie das frühere die Verzerrung an sich. Er copirt das
Menschenleben, nimmt es aber für eine gute Sache und scheint mit
ihm sich recht zufrieden zu geben. Jenes ungeheure Gebälk und
Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige
Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen In-
tellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten
Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, iro-
nisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das
Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der
Bedürftigkeit nicht braucht, und dass er jetzt nicht von Begriffen
sondern von Intuitionen geleitet wird. Von diesen Intuitionen aus
führt kein regelmässiger Weg in das Land der gespenstischen
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Schemata, der Abstraktionen: für sie ist das Wort nicht gemacht,
der Mensch verstummt, wenn er sie sieht, oder redet in lauter
verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen, um
wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Be-
griffsschranken dem Eindrücke der mächtigen gegenwärtigen In-
tuition schöpferisch zu entsprechen.
Es giebt Zeitalter, in denen der vernünftige Mensch und der
intuitive Mensch neben einander stehen, der eine in Angst vor der
Intuition, der andere mit Hohn über die Abstraction; der letztere
eben so unvernünftig, als der erstere unkünstlerisch ist. Beide be-
gehren über das Leben zu herrschen: dieser, indem er durch Vor-
sorge, Klugheit, Regelmässigkeit den hauptsächlichsten Nöthen
zu begegnen weiss, jener indem er als ein „überfroher Held" jene
Nöthe nicht sieht und nur das zum Schein und zur Schönheit ver-
stellte Leben als real nimmt. Wo einmal der intuitive Mensch,
etwa wie im älteren Griechenland seine Waffen gewaltiger und
siegreicher führt, als sein Widerspiel, kann sich günstigen Falls
eine Kultur gestalten, und die Herrschaft der Kunst über das
Leben sich gründen; jene Verstellung, jenes Verläugnen der Be-