Vorwort
In seinen vier Unzeitgemässen Betrachtungen wertet Nietzsche den Begriff ,un-
zeitgemäß' entschieden um, der ansonsten das für die jeweils aktuelle Epoche
nicht Angemessene oder das Veraltete bezeichnet. Entgegen der Sprachkon-
vention meint Nietzsche mit ,unzeitgemäß' keineswegs das Obsolete; stattdes-
sen signalisiert er mit diesem Begriff seine Opposition zu Tendenzen der Zeit.
Darüber hinaus hebt er in der zweiten der Unzeitgemässen Betrachtungen aus-
drücklich die kulturelle Bedeutung des ,Überhistorischen' und des ,Unhistori-
schen' hervor. Aus den kritischen Gegenwartsdiagnosen seiner Frühschriften
leitet Nietzsche Zukunftsperspektiven ab, die gerade das Zeitgemäße als das
zu überwindende Negative erscheinen lassen. Infolgedessen hält er Persönlich-
keiten, Mentalitäten und Ideen für ,unzeitgemäß', die über die jeweilige Gegen-
wart hinausweisen und auf eine bessere Zukunft hoffen lassen. Als ,unzeitge-
mäß' in diesem positiven Sinne präsentiert er in der dritten und vierten der
Unzeitgemässen Betrachtungen Schopenhauer und Wagner, deren paradigmati-
sche Bedeutung er darin erblickt, dass sie sich von konventionellen Normen
emanzipiert und als autonome Persönlichkeiten die Beschränkungen ihrer ei-
genen Epoche überwunden haben. Nietzsche sieht sie daher als ,unzeitgemä-
ße' Vorbilder an, die Impulse für eine kulturelle Erneuerung geben können.
Inwiefern Nietzsche seine kritischen Epochendiagnosen mit einem kon-
struktiven Zukunftsengagement zu verbinden sucht, zeigt das Vorwort zur
zweiten der Unzeitgemässen Betrachtungen: Vom Nutzen und Nachtheil der His-
torie für das Leben. Mit Nachdruck formuliert er hier seine Absicht, „unzeitge-
mäss - das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu
Gunsten einer kommenden Zeit - zu wirken" (KSA 1, 247). Dass Nietzsche gera-
de dem Philosophen eine besondere Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit, mithin
einen zukunftsweisenden Sonderstatus zuschreibt, geht aus Schopenhauer als
Erzieher hervor, der dritten der Unzeitgemässen Betrachtungen: Hier statuiert
er, „der Philosoph" müsse „seine Zeit in ihrem Unterschiede gegen andre wohl
abschätzen und, indem er für sich die Gegenwart überwindet, auch in seinem
Bilde, das er vom Leben giebt, die Gegenwart überwinden" (KSA 1, 361). In
diesem Sinne versucht Nietzsche seinen Lesern „zu erklären, wie wir Alle
durch Schopenhauer uns gegen unsre Zeit erziehen können" (KSA 1, 363).
Diese programmatische Intention auf ,Unzeitgemäßheit' reicht über Nietzsches
Frühwerk Unzeitgemässe Betrachtungen allerdings weit hinaus und manifes-
tiert sich sogar noch in seiner Spätschrift Der Fall Wagner. Dort verbindet er
sein philosophisches Selbstverständnis dezidiert mit einem Anspruch auf ,Zeit-
losigkeit' und grenzt sich dabei entschieden von der Decadence-Problematik
seiner Epoche ab: „Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich?
https://d0i.org/10.1515/9783110677966-203
In seinen vier Unzeitgemässen Betrachtungen wertet Nietzsche den Begriff ,un-
zeitgemäß' entschieden um, der ansonsten das für die jeweils aktuelle Epoche
nicht Angemessene oder das Veraltete bezeichnet. Entgegen der Sprachkon-
vention meint Nietzsche mit ,unzeitgemäß' keineswegs das Obsolete; stattdes-
sen signalisiert er mit diesem Begriff seine Opposition zu Tendenzen der Zeit.
Darüber hinaus hebt er in der zweiten der Unzeitgemässen Betrachtungen aus-
drücklich die kulturelle Bedeutung des ,Überhistorischen' und des ,Unhistori-
schen' hervor. Aus den kritischen Gegenwartsdiagnosen seiner Frühschriften
leitet Nietzsche Zukunftsperspektiven ab, die gerade das Zeitgemäße als das
zu überwindende Negative erscheinen lassen. Infolgedessen hält er Persönlich-
keiten, Mentalitäten und Ideen für ,unzeitgemäß', die über die jeweilige Gegen-
wart hinausweisen und auf eine bessere Zukunft hoffen lassen. Als ,unzeitge-
mäß' in diesem positiven Sinne präsentiert er in der dritten und vierten der
Unzeitgemässen Betrachtungen Schopenhauer und Wagner, deren paradigmati-
sche Bedeutung er darin erblickt, dass sie sich von konventionellen Normen
emanzipiert und als autonome Persönlichkeiten die Beschränkungen ihrer ei-
genen Epoche überwunden haben. Nietzsche sieht sie daher als ,unzeitgemä-
ße' Vorbilder an, die Impulse für eine kulturelle Erneuerung geben können.
Inwiefern Nietzsche seine kritischen Epochendiagnosen mit einem kon-
struktiven Zukunftsengagement zu verbinden sucht, zeigt das Vorwort zur
zweiten der Unzeitgemässen Betrachtungen: Vom Nutzen und Nachtheil der His-
torie für das Leben. Mit Nachdruck formuliert er hier seine Absicht, „unzeitge-
mäss - das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu
Gunsten einer kommenden Zeit - zu wirken" (KSA 1, 247). Dass Nietzsche gera-
de dem Philosophen eine besondere Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit, mithin
einen zukunftsweisenden Sonderstatus zuschreibt, geht aus Schopenhauer als
Erzieher hervor, der dritten der Unzeitgemässen Betrachtungen: Hier statuiert
er, „der Philosoph" müsse „seine Zeit in ihrem Unterschiede gegen andre wohl
abschätzen und, indem er für sich die Gegenwart überwindet, auch in seinem
Bilde, das er vom Leben giebt, die Gegenwart überwinden" (KSA 1, 361). In
diesem Sinne versucht Nietzsche seinen Lesern „zu erklären, wie wir Alle
durch Schopenhauer uns gegen unsre Zeit erziehen können" (KSA 1, 363).
Diese programmatische Intention auf ,Unzeitgemäßheit' reicht über Nietzsches
Frühwerk Unzeitgemässe Betrachtungen allerdings weit hinaus und manifes-
tiert sich sogar noch in seiner Spätschrift Der Fall Wagner. Dort verbindet er
sein philosophisches Selbstverständnis dezidiert mit einem Anspruch auf ,Zeit-
losigkeit' und grenzt sich dabei entschieden von der Decadence-Problematik
seiner Epoche ab: „Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich?
https://d0i.org/10.1515/9783110677966-203