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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0056
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Überblickskommentar, Kapitel III.5: Struktur 29

düsteren Prognosen schießt Schopenhauer über eine plausible, durch sachli-
che Argumente begründete Kritik an der philosophischen ,Szene' seiner Epo-
che erheblich hinaus.
Die Bergmetapher (UP 167; SE 381, 402-403, 366) und die Symbolik des
Scheideweges (UP 207-208; SE 340, 342) fungieren bereits in Schopenhauers
Ueber die Universitäts-Philosophie und später auch in N.s UB III SE als Distink-
tionsmerkmale im Rahmen einer geistesaristokratischen Standortbestimmung.
Mit dem breiten, bequemen und allgemein anerkannten Weg, den die medio-
kre Masse bevorzugt, kontrastieren Schopenhauer und N. den steilen, schma-
len Pfad zur Wahrheit, auf dem sich die geistige Elite abmüht (UP 207-208;
SE 340, 342). Schopenhauer meint, der „Gipfel dieses Parnassus" sei durch phi-
losophische Ignoranten „immer breiter getreten" worden (UP 190). Letztlich er-
hoffen sich Schopenhauer und N. vom „Tribunal der Nachwelt" (UP 155, 185,
188; SE 339, 349, 425) eine Instanz, welche die eklatanten Fehlurteile der bor-
nierten Zeitgenossen in der Zukunft zu revidieren (UP 155, 185, 188; SE 338,
339, 361-364, 425) und die Würde der Philosophie, ihr heroisches Potential und
ihre produktive Gefährlichkeit wiederherzustellen vermag (UP 154; SE 366,
426-427).
111.5 Die Struktur des Gedankengangs in der Abfolge
der Kapitel
N. hat UB III SE (335-427) in acht bezifferte Kapitel unterschiedlichen Umfangs
gegliedert, die den Gegenstand aus wechselnden Perspektiven thematisieren.
1.
Im ersten Teil der Schrift (337-341) beantwortet N. die Frage nach überzeitli-
chen anthropologischen Konstanten damit, dass er Faulheit und Furcht als
Charakteristika der Menschen hervorhebt. Dieses Verhalten führt er auf die sei-
nes Erachtens verbreitete Grundtendenz zurück, sich den jeweils geltenden
Denkkonventionen und Handlungsnormen aus purer Bequemlichkeit oder aus
Scham kritiklos anzupassen. Dem Herdentrieb der Menschen hält N. das Postu-
lat individueller Selbstentfaltung und Eigenverantwortung als ,unzeitgemäßen'
Grundsatz der Autonomie entgegen, der nur auf der Basis angemessener
Selbsterkenntnis verwirklicht werden könne.
Mit einem Lob des Anachronismus erweitert N. den Horizont über das un-
verwechselbare Individuum hinaus auf eine kritische Kulturdiagnose, so dass
 
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