12 Schopenhauer als Erzieher
mich zu glauben, daß die deutschen Jünglinge ausgestorben seien. Wohlan: so
habe ich keinen Grund mehr, in jener früheren Manier ,beredt' zu sein; heute -
könnte ich es vielleicht nicht mehr" (NL 1885, 37 [5], KSA 11, 579). Dieser Selbst-
stilisierung gemäß dem Minotaurus-Mythos lässt N. dann die Exposition eines
philosophischen Einsamkeitspathos folgen, und zwar in dem Bewusstsein,
eine monologische „Einsiedler-Philosophie" von zwielichtiger Aura und abwei-
sender Kälte zu entfalten (vgl. NL 1885, 37 [5], KSA 11, 579-580). Im Spätwerk
Der Fall Wagner bezieht N. den Minotaurus-Mythos dann polemisch auf Wag-
ner (KSA 6, 45, 4).
Unter dem markanten Titel „Neue unzeitgemäße Betrachtung"
(NL 1885, 41 [2], KSA 11, 669) formuliert N. in einem weiteren Nachlass-Notat
von 1885 eine ebenfalls aufschlussreiche Retrospektive auf UB III SE und
UB IV WB. Im Unterschied zu einigen anderen Selbstaussagen N.s zu seinen
Frühwerken dominiert hier weniger die nachträgliche Selbstkritik, als vielmehr
ein Gestus der Selbstrechtfertigung, der das Irrtümliche der einstigen Einschät-
zungen zwar ins Spiel bringt, es aber zugleich ins Hypothetische zurücknimmt.
Zuvor richtet er generalisierend eine skeptische Perspektive auf die Problema-
tik des jugendlichen Extremismus: „Man verehrt und verachtet in jungen Jah-
ren wie ein Narr" (NL 1885, 41 [2], KSA 11, 669). Wie eine implizite Selbstentlar-
vung erscheint die anschließende Feststellung: „Jugend selber ist etwas
Fälschendes und Betrügerisches. Es scheint, daß das Ehrfürchtige und Zornige,
was der Jugend eignet, durchaus keine Ruhe hat, als bis es sich Menschen und
Dinge so zurecht ,gefälscht hat', bis es an denselben seine Affekte entladen
kann. Später, wo man stärker, tiefer, auch ,wahrhaftiger' geworden ist, er-
schrickt man zu entdecken, wie wenig man damals die Augen offen gehabt
hat, als man auf diesen Altären opferte", und „zürnt sich wegen dieser Selbst-
Verblendung", als wäre sie „eine unredliche Blindheit gewesen" (NL 1885, 41
[2], KSA 11, 670).
In Jenseits von Gut und Böse findet sich eine analoge Reflexion, an die N.
die folgende, psychologisch erhellende Analyse mentaler Dispositionen an-
schließt: „Jugend ist an sich schon etwas Fälschendes und Betrügerisches.
Später, wenn die junge Seele, durch lauter Enttäuschungen gemartert, sich
endlich argwöhnisch gegen sich selbst zurück wendet, immer noch heiss und
wild, auch in ihrem Argwohne und Gewissensbisse: wie zürnt sie sich nun-
mehr, wie zerreisst sie sich ungeduldig, wie nimmt sie Rache für ihre lange
Selbst-Verblendung, wie als ob sie eine willkürliche Blindheit gewesen sei! In
diesem Übergange bestraft man sich selber, durch Misstrauen gegen sein Ge-
fühl; man foltert seine Begeisterung durch den Zweifel, [...] man nimmt Partei,
grundsätzlich Partei gegen ,die Jugend'. - Ein Jahrzehend später: und man
begreift, dass auch dies Alles noch - Jugend war!" (KSA 5, 49, 25 - 50, 7).
mich zu glauben, daß die deutschen Jünglinge ausgestorben seien. Wohlan: so
habe ich keinen Grund mehr, in jener früheren Manier ,beredt' zu sein; heute -
könnte ich es vielleicht nicht mehr" (NL 1885, 37 [5], KSA 11, 579). Dieser Selbst-
stilisierung gemäß dem Minotaurus-Mythos lässt N. dann die Exposition eines
philosophischen Einsamkeitspathos folgen, und zwar in dem Bewusstsein,
eine monologische „Einsiedler-Philosophie" von zwielichtiger Aura und abwei-
sender Kälte zu entfalten (vgl. NL 1885, 37 [5], KSA 11, 579-580). Im Spätwerk
Der Fall Wagner bezieht N. den Minotaurus-Mythos dann polemisch auf Wag-
ner (KSA 6, 45, 4).
Unter dem markanten Titel „Neue unzeitgemäße Betrachtung"
(NL 1885, 41 [2], KSA 11, 669) formuliert N. in einem weiteren Nachlass-Notat
von 1885 eine ebenfalls aufschlussreiche Retrospektive auf UB III SE und
UB IV WB. Im Unterschied zu einigen anderen Selbstaussagen N.s zu seinen
Frühwerken dominiert hier weniger die nachträgliche Selbstkritik, als vielmehr
ein Gestus der Selbstrechtfertigung, der das Irrtümliche der einstigen Einschät-
zungen zwar ins Spiel bringt, es aber zugleich ins Hypothetische zurücknimmt.
Zuvor richtet er generalisierend eine skeptische Perspektive auf die Problema-
tik des jugendlichen Extremismus: „Man verehrt und verachtet in jungen Jah-
ren wie ein Narr" (NL 1885, 41 [2], KSA 11, 669). Wie eine implizite Selbstentlar-
vung erscheint die anschließende Feststellung: „Jugend selber ist etwas
Fälschendes und Betrügerisches. Es scheint, daß das Ehrfürchtige und Zornige,
was der Jugend eignet, durchaus keine Ruhe hat, als bis es sich Menschen und
Dinge so zurecht ,gefälscht hat', bis es an denselben seine Affekte entladen
kann. Später, wo man stärker, tiefer, auch ,wahrhaftiger' geworden ist, er-
schrickt man zu entdecken, wie wenig man damals die Augen offen gehabt
hat, als man auf diesen Altären opferte", und „zürnt sich wegen dieser Selbst-
Verblendung", als wäre sie „eine unredliche Blindheit gewesen" (NL 1885, 41
[2], KSA 11, 670).
In Jenseits von Gut und Böse findet sich eine analoge Reflexion, an die N.
die folgende, psychologisch erhellende Analyse mentaler Dispositionen an-
schließt: „Jugend ist an sich schon etwas Fälschendes und Betrügerisches.
Später, wenn die junge Seele, durch lauter Enttäuschungen gemartert, sich
endlich argwöhnisch gegen sich selbst zurück wendet, immer noch heiss und
wild, auch in ihrem Argwohne und Gewissensbisse: wie zürnt sie sich nun-
mehr, wie zerreisst sie sich ungeduldig, wie nimmt sie Rache für ihre lange
Selbst-Verblendung, wie als ob sie eine willkürliche Blindheit gewesen sei! In
diesem Übergange bestraft man sich selber, durch Misstrauen gegen sein Ge-
fühl; man foltert seine Begeisterung durch den Zweifel, [...] man nimmt Partei,
grundsätzlich Partei gegen ,die Jugend'. - Ein Jahrzehend später: und man
begreift, dass auch dies Alles noch - Jugend war!" (KSA 5, 49, 25 - 50, 7).