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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0042
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Überblickskommentar, Kapitel III.3: Selbstaussagen Nietzsches 15

die Hoffnung uns giebt. / Als ich 21 Jahre alt war, war ich vielleicht der einzige
Mensch in Deutschland, der diese Zwei, der zugleich Richard Wagner und
Schopenhauer mit Einer Begeisterung liebte" (NL 1884, 26 [406], KSA 11, 257-
258).
Mehrere Briefe N.s aus unterschiedlichen Zeitphasen geben ebenfalls Ein-
blick in das Spektrum seiner konträren Selbsteinschätzungen, die auch sein
Urteil über die Unzeitgemässen Betrachtungen betreffen. Am 1. April 1874, also
im Publikationsjahr von UB II HL und UB III SE, hatte er in einem Brief an Carl
von Gersdorff noch das Geständnis formuliert, „wie verzagt und melancholisch
ich im Grunde von mir selbst, als producirendem Wesen, denke! Ich suche
weiter nichts als etwas Freiheit, etwas wirkliche Luft des Lebens und wehre
mich, empöre mich gegen das viele, unsäglich viele Unfreie, was mir anhaftet.
Von einem wirklichen Produciren kann aber gar nicht geredet werden, so lange
man noch so wenig aus der Unfreiheit, aus dem Leiden und Lastgefühl des
Befangenseins heraus ist: werde ich's je erreichen? Zweifel über Zweifel"
(KSB 4, Nr. 356, S. 214). - Acht Jahre später hingegen erklärt N. Elise Fincke
am 20. März 1882 mit dem Selbstbewusstsein des bereits arrivierten Autors
nicht ohne Koketterie: „Sie haben noch Alles von mir zu lesen. Jene unzeitge-
mässen Betrachtungen rechne ich als Jugendschriften: Da machte ich eine vor-
läufige Abrechnung mit dem was mich am meisten bis dahin im Leben ge-
hemmt und gefördert hatte, da versuchte ich von Einigem loszukommen,
dadurch dass ich es verunglimpfte oder verherrlichte wie es die Art der Jugend
ist -: Ach die Dankbarkeit im Guten und Bösen hat mir immer viel zu schaffen
gemacht! Immerhin - ich habe einiges Vertrauen in Folge dieser Erstlinge ein-
geerntet, auch bei Ihnen und den ausgezeichneten Genossen Ihrer Studien! All
dies Vertrauen werden Sie nöthig haben um mir auf meinen neuen und nicht
ungefährlichen Wegen zu folgen und zuletzt - wer weiss? wer weiss? - halten
auch Sie es nicht mehr aus und sagen was schon mancher gesagt hat: Mag er
laufen wohin ihm beliebt und sich den Hals brechen wenn's ihm beliebt"
(KSB 6, Nr. 212, S. 181).
Indem N. von seinen „neuen und nicht ungefährlichen Wegen" spricht,
die er zudem mit Selbstironie als potentiell halsbrecherisch charakterisiert,
schließt er zugleich implizit an Einschätzungen an, die sich acht Jahre zuvor
bereits in der Schlusspassage von UB III SE finden. Unter Berufung auf Emer-
son (426, 11-25) hebt N. hier emphatisch die produktive Gefährlichkeit der Phi-
losophie hervor: Das revolutionäre Potential echter Denker, deren Innovations-
kraft die Konventionen sprengt, kontrastiert er mit der banalen Indifferenz von
Universitätsphilosophen und greift dabei seinerseits auf Überzeugungen Scho-
penhauers zurück (vgl. dazu das Kapitel III.4 dieses Überblickskommentars):
„wenn solche Denker gefährlich sind, so ist freilich deutlich, wesshalb unsre
 
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