16 Schopenhauer als Erzieher
akademischen Denker ungefährlich sind; denn ihre Gedanken wachsen so fried-
lich im Herkömmlichen, wie nur je ein Baum seine Aepfel trug" (426, 25-29).
In einem zwischen Herbst 1885 und Herbst 1886 entstandenen nachgelas-
senen Notat äußert sich N. zunächst selbstkritisch über den Titel Unzeitgemäs-
se Betrachtungen, um seine skeptische Perspektive dann allerdings zu relativie-
ren und sie sogar selbstbewusst mit einem avantgardistischen Anspruch zu
überbieten: „Wenn ich einstmals das Wort ,unzeitgemäß' auf meine Bücher
geschrieben habe, wie viel Jugend, Unerfahrenheit, Winkel drückt sich in die-
sem Worte aus! Heute begreife ich, daß mit dieser Art Klage Begeisterung und
Unzufriedenheit ich eben damit zu den Modernsten der Modernen gehörte"
(NL 1885-1886, 2 [201], KSA 12, 165).
Die Rückblicke und nachträglichen Umdeutungen, mit denen sich N. im
mittleren und späten Werk radikal von Schopenhauer und Wagner distanziert,
unterscheiden sich grundlegend von einigen Überlegungen in der Fröhlichen
Wissenschaft (vgl. FW 99 und FW 100). Im Text 99 mit dem Titel „Die An-
hänger Schopenhauer' s" greift N. auf Charakteristika Schopenhauers zu-
rück, die er teilweise zuvor bereits in UB III SE als positive Eigenschaften ent-
faltet hat, verbindet sie dann allerdings auch mit kritischen Überlegungen,
indem er sich fragt, was die deutschen „Anhänger Schopenhauer's" von
„ihrem Meister zuerst anzunehmen" pflegen (KSA 3, 453, 22 - 455, 2):
„Ist es sein harter Thatsachen-Sinn, sein guter Wille zu Helligkeit und Vernunft, der ihn
oft so englisch und so wenig deutsch erscheinen lässt? Oder die Stärke seines intellectuel-
len Gewissens, das einen lebenslangen Widerspruch zwischen Sein und Wollen aus-
hielt und ihn dazu zwang, sich auch in seinen Schriften beständig und fast in jedem
Puncte zu widersprechen? Oder seine Reinlichkeit in Dingen der Kirche und des christli-
chen Gottes? [...] Oder seine unsterblichen Lehren von der Intellectualität der Anschau-
ung, von der Apriorität des Causalitätsgesetzes, von der Werkzeug-Natur des Intellects
und der Unfreiheit des Willens? Nein, diess Alles bezaubert nicht [...]: aber die mystischen
Verlegenheiten und Ausflüchte Schopenhauer's, an jenen Stellen, wo der Thatsachen-
Denker sich vom eitlen Triebe, der Enträthseler der Welt zu sein, verführen und verderben
liess, die unbeweisbare Lehre von Einem Willen [...], die Leugnung des Indivi-
duums [...], die Schwärmerei vom Genie [...], der Unsinn vom Mitleide und der in
ihm ermöglichten Durchbrechung des principii individuationis als der Quelle aller Morali-
tät: diese und ähnliche Ausschweifungen und Laster des Philosophen werden immer
am ersten angenommen und zur Sache des Glaubens gemacht: - Laster und Ausschwei-
fungen sind nämlich immer am leichtesten nachzuahmen und wollen keine lange Vor-
übung."
Der anschließende Text 100 reflektiert in einem allgemeinen Kontext ambiva-
lente Verhaltensweisen, die durch innerpsychische Hemmnisse der Dankbar-
keit bedingt sein können. Hier geht N. von der Beobachtung aus, dass so viele
Menschen auffällig „ungeschickt und arm [...] im Ausdruck ihrer Dankbarkeit
akademischen Denker ungefährlich sind; denn ihre Gedanken wachsen so fried-
lich im Herkömmlichen, wie nur je ein Baum seine Aepfel trug" (426, 25-29).
In einem zwischen Herbst 1885 und Herbst 1886 entstandenen nachgelas-
senen Notat äußert sich N. zunächst selbstkritisch über den Titel Unzeitgemäs-
se Betrachtungen, um seine skeptische Perspektive dann allerdings zu relativie-
ren und sie sogar selbstbewusst mit einem avantgardistischen Anspruch zu
überbieten: „Wenn ich einstmals das Wort ,unzeitgemäß' auf meine Bücher
geschrieben habe, wie viel Jugend, Unerfahrenheit, Winkel drückt sich in die-
sem Worte aus! Heute begreife ich, daß mit dieser Art Klage Begeisterung und
Unzufriedenheit ich eben damit zu den Modernsten der Modernen gehörte"
(NL 1885-1886, 2 [201], KSA 12, 165).
Die Rückblicke und nachträglichen Umdeutungen, mit denen sich N. im
mittleren und späten Werk radikal von Schopenhauer und Wagner distanziert,
unterscheiden sich grundlegend von einigen Überlegungen in der Fröhlichen
Wissenschaft (vgl. FW 99 und FW 100). Im Text 99 mit dem Titel „Die An-
hänger Schopenhauer' s" greift N. auf Charakteristika Schopenhauers zu-
rück, die er teilweise zuvor bereits in UB III SE als positive Eigenschaften ent-
faltet hat, verbindet sie dann allerdings auch mit kritischen Überlegungen,
indem er sich fragt, was die deutschen „Anhänger Schopenhauer's" von
„ihrem Meister zuerst anzunehmen" pflegen (KSA 3, 453, 22 - 455, 2):
„Ist es sein harter Thatsachen-Sinn, sein guter Wille zu Helligkeit und Vernunft, der ihn
oft so englisch und so wenig deutsch erscheinen lässt? Oder die Stärke seines intellectuel-
len Gewissens, das einen lebenslangen Widerspruch zwischen Sein und Wollen aus-
hielt und ihn dazu zwang, sich auch in seinen Schriften beständig und fast in jedem
Puncte zu widersprechen? Oder seine Reinlichkeit in Dingen der Kirche und des christli-
chen Gottes? [...] Oder seine unsterblichen Lehren von der Intellectualität der Anschau-
ung, von der Apriorität des Causalitätsgesetzes, von der Werkzeug-Natur des Intellects
und der Unfreiheit des Willens? Nein, diess Alles bezaubert nicht [...]: aber die mystischen
Verlegenheiten und Ausflüchte Schopenhauer's, an jenen Stellen, wo der Thatsachen-
Denker sich vom eitlen Triebe, der Enträthseler der Welt zu sein, verführen und verderben
liess, die unbeweisbare Lehre von Einem Willen [...], die Leugnung des Indivi-
duums [...], die Schwärmerei vom Genie [...], der Unsinn vom Mitleide und der in
ihm ermöglichten Durchbrechung des principii individuationis als der Quelle aller Morali-
tät: diese und ähnliche Ausschweifungen und Laster des Philosophen werden immer
am ersten angenommen und zur Sache des Glaubens gemacht: - Laster und Ausschwei-
fungen sind nämlich immer am leichtesten nachzuahmen und wollen keine lange Vor-
übung."
Der anschließende Text 100 reflektiert in einem allgemeinen Kontext ambiva-
lente Verhaltensweisen, die durch innerpsychische Hemmnisse der Dankbar-
keit bedingt sein können. Hier geht N. von der Beobachtung aus, dass so viele
Menschen auffällig „ungeschickt und arm [...] im Ausdruck ihrer Dankbarkeit