30 Schopenhauer als Erzieher
die Bedeutung des Unzeitgemäßen auch im Epochenkontext evident wird. Die
jeweils von historischen Rahmenbedingungen und ethnischen Prägungen ab-
hängigen Normen und Gewohnheiten der Menschen haben, von einem überge-
ordneten Standpunkt aus betrachtet, nur begrenzte Geltung. Aufgrund ihrer
bloß relativen Gültigkeit für bestimmte Nationen, Religionen und Epochen sind
sie letztlich unverbindlich. Hinsichtlich der Abgrenzung von normativen Regle-
mentierungen stimmen die unkonventionellen Künstler mit den unzeitgemä-
ßen Denkern überein.
Indem N. das Wesen des Menschen über die aktuellen Gegebenheiten hi-
naus auf ein fernes Ich-Ideal bezieht, öffnet er die Gegenwart auf einen Zu-
kunftshorizont hin und markiert zugleich die Bedeutung einer prozessualen
Selbstentfaltung des Menschen. Mit diesem Gedankengang schlägt N. die Brü-
cke zu seinem Bildungskonzept: Wenn Erzieher demnach bei ihren Schülern
Entwicklungshindernisse beseitigen, ermöglichen sie ihnen Bildung durch in-
nere Befreiung. Eine solche Kultivierung des Menschen könne zur „Vollendung
der Natur" führen (341). Als den besten Weg zur Selbstfindung betrachtet N.
die Orientierung an Vorbildern. Damit ist der Übergang zum autobiographi-
schen Hintergrund vollzogen: Am Ende des 1. Kapitels exponiert er Arthur
Schopenhauer als seinen eigenen Lehrer.
2.
Ausgehend von seinem früheren Wunsch, die als Last empfundene Verpflich-
tung zur Selbsterziehung an einen „wahren Philosophen" zu delegieren (342),
reflektiert N. im 2. Kapitel (341-350) zunächst die Alternative zwischen zwei
konträren Erziehungsprinzipien: Einerseits wird die Perfektionierung von Spe-
zialbegabungen beabsichtigt, andererseits die Entfaltung des Menschen mit
seinem ganzen Potential. Nach N.s Überzeugung lässt sich der Gegensatz zwi-
schen diesen Konzepten allerdings zumindest idealiter in Gestalt einer integra-
tiven Persönlichkeit ,aufheben', in der alle Wesenskomponenten harmonisch
miteinander vermittelt sind.
Ein folgenreiches Desiderat konstatiert N. im Anschluss an seine kulturkri-
tische Diagnose, der zeitgenössische Wissenschaftsbetrieb lasse die Persön-
lichkeit des Gelehrten verkümmern und verfehle ein humanes Bildungsideal
auch in der akademischen Lehre: Gerade in der Moderne sei ein Mangel an
sittlichen Erziehern und Vorbildern festzustellen. Vom Fortschrittsoptimismus
seiner Zeitgenossen grenzt sich N. dezidiert ab, wenn er die Überlegenheit der
antiken Erziehung und Bildung im Vergleich mit der Misere der zeitgenössi-
schen Pädagogik und Universitätskultur behauptet, in der auch eine Schule
des Redens und Schreibens für die Heranbildung künftiger Gelehrtengeneratio-
die Bedeutung des Unzeitgemäßen auch im Epochenkontext evident wird. Die
jeweils von historischen Rahmenbedingungen und ethnischen Prägungen ab-
hängigen Normen und Gewohnheiten der Menschen haben, von einem überge-
ordneten Standpunkt aus betrachtet, nur begrenzte Geltung. Aufgrund ihrer
bloß relativen Gültigkeit für bestimmte Nationen, Religionen und Epochen sind
sie letztlich unverbindlich. Hinsichtlich der Abgrenzung von normativen Regle-
mentierungen stimmen die unkonventionellen Künstler mit den unzeitgemä-
ßen Denkern überein.
Indem N. das Wesen des Menschen über die aktuellen Gegebenheiten hi-
naus auf ein fernes Ich-Ideal bezieht, öffnet er die Gegenwart auf einen Zu-
kunftshorizont hin und markiert zugleich die Bedeutung einer prozessualen
Selbstentfaltung des Menschen. Mit diesem Gedankengang schlägt N. die Brü-
cke zu seinem Bildungskonzept: Wenn Erzieher demnach bei ihren Schülern
Entwicklungshindernisse beseitigen, ermöglichen sie ihnen Bildung durch in-
nere Befreiung. Eine solche Kultivierung des Menschen könne zur „Vollendung
der Natur" führen (341). Als den besten Weg zur Selbstfindung betrachtet N.
die Orientierung an Vorbildern. Damit ist der Übergang zum autobiographi-
schen Hintergrund vollzogen: Am Ende des 1. Kapitels exponiert er Arthur
Schopenhauer als seinen eigenen Lehrer.
2.
Ausgehend von seinem früheren Wunsch, die als Last empfundene Verpflich-
tung zur Selbsterziehung an einen „wahren Philosophen" zu delegieren (342),
reflektiert N. im 2. Kapitel (341-350) zunächst die Alternative zwischen zwei
konträren Erziehungsprinzipien: Einerseits wird die Perfektionierung von Spe-
zialbegabungen beabsichtigt, andererseits die Entfaltung des Menschen mit
seinem ganzen Potential. Nach N.s Überzeugung lässt sich der Gegensatz zwi-
schen diesen Konzepten allerdings zumindest idealiter in Gestalt einer integra-
tiven Persönlichkeit ,aufheben', in der alle Wesenskomponenten harmonisch
miteinander vermittelt sind.
Ein folgenreiches Desiderat konstatiert N. im Anschluss an seine kulturkri-
tische Diagnose, der zeitgenössische Wissenschaftsbetrieb lasse die Persön-
lichkeit des Gelehrten verkümmern und verfehle ein humanes Bildungsideal
auch in der akademischen Lehre: Gerade in der Moderne sei ein Mangel an
sittlichen Erziehern und Vorbildern festzustellen. Vom Fortschrittsoptimismus
seiner Zeitgenossen grenzt sich N. dezidiert ab, wenn er die Überlegenheit der
antiken Erziehung und Bildung im Vergleich mit der Misere der zeitgenössi-
schen Pädagogik und Universitätskultur behauptet, in der auch eine Schule
des Redens und Schreibens für die Heranbildung künftiger Gelehrtengeneratio-