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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0058
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Überblickskommentar, Kapitel III.5: Struktur 31

nen fehle. Angesichts dieser krisenhaften, vom Epigonensyndrom bestimmten
kulturellen Konstellation seiner Gegenwart, in welcher der moderne Mensch
mut- und orientierungslos zwischen christlichen Normen und antiker Tradition
changiert, entdeckt N. die Philosophie Schopenhauers als ein willkommenes Kor-
rektiv. Indem er seinem Lehrer die ,unzeitgemäßen' Eigenschaften Einfachheit,
Natürlichkeit, Ehrlichkeit, Heiterkeit und Beständigkeit attestiert, beschreibt er
ihn als moralisches Vorbild und als Alternative zu moderner Überkompliziertheit.
N. betrachtet Schopenhauer gerade aufgrund seiner ,unzeitgemäßen' Authentizi-
tät als den ersehnten Erzieher. An ihm schätzt er vor allem, dass er sich gegen
äußere Widerstände behauptet und sein Werk von wissenschaftlicher Pedanterie
und rhetorischer Effekthascherei gleichermaßen freizuhalten gewusst habe.
3.
N. betrachtet den Philosophen Schopenhauer als vorbildlichen Repräsentanten
geistiger Freiheit, weil er bewusst eine distanzierte Position zu Staat und Gesell-
schaft eingenommen habe. Aufgrund dieser Autonomie grenzt N. ihn von der
Interessengebundenheit der konventionellen „Professorenphilosophie" Kanti-
scher Provenienz ab (351) und rückt ihn im 3. Kapitel (350-363) zugleich in eine
Affinität zu den Künstlern, die er für kompromissloser im Umgang mit etablierten
Ordnungen sowie insgesamt für „kühner und ehrlicher" hält (351). Anschließend
thematisiert N. aber auch die Gefährdungen Schopenhauers durch Konstitution,
biographische Erfahrungen und soziale Rahmenbedingungen: Einsamkeit, Ver-
bitterung, Melancholie, Verzweiflung an der Wahrheit infolge des Kantischen
Skeptizismus und Relativismus (357-358) haben laut N. zum kämpferischen Ges-
tus Schopenhauers und zu seiner Sehnsucht nach Heiligkeit (358) ebenso beige-
tragen wie das Spannungsverhältnis zwischen seinem Singularitätsbewusstsein
und der lange entbehrten öffentlichen Anerkennung. - Indem N. Schopenhauers
Postulat, „frei und ganz er selbst zu sein" (362), befürwortet, folgt er der Überzeu-
gung seines philosophischen Lehrers (vgl. dazu NK 338, 11 und NK 362, 11-18).
Laut N. enthalten Schopenhauers Werke ein ,unzeitgemäßes' Urteil über den
„Werth des Daseins" (361); zugleich erscheinen sie ihm aber auch als „Spiegel der
Zeit" (362) und als kritische Epochendiagnose. Aus dem Ganzheitsanspruch „je-
der grossen Philosophie" (357) leitet N. das Postulat ab, der Leser solle aus dem
„Bild alles Lebens" (357), das ihm Schopenhauers Philosophie vermittle, Schlüs-
se für seinen individuellen Lebenssinn ziehen. Dabei gelte es den existentiellen
Bezug und die Ausrichtung auf das Ideal zu bewahren, um sich für die „Erzeu-
gung des Genius" zu engagieren, in der N. letztlich „das Ziel aller Cultur" sieht
(358).
 
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