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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0062
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Überblickskommentar, Kapitel III.5: Struktur 35

heit im Hinblick auf übergeordnete Problemzusammenhänge, akribische Detail-
fixierung, Nüchternheit, Gefühlsarmut, Anpassung an die geltenden Konventio-
nen, eine devote Fixierung auf die eigenen Lehrer sowie eine übertriebene
Orientierung an den herrschenden Institutionen und am Verhalten von Kolle-
gen. Dieses Konglomerat aus Sekundärmotivationen, zu denen noch Eitelkeit,
Inferioritätsgefühle, materialistische Interessen, stupider Fleiß, Flucht vor der
Langeweile und ein auf Kuriositäten gerichteter Sammeltrieb hinzukommen
können, verhindere die zweckfreie Wahrheitssuche und trage auch zur Sterilität
der Gelehrten maßgeblich bei (399).
Aufgrund ihrer eigenen Inferiorität hassen die Vertreter der Gelehrtenzunft
laut N. das originelle Genie, das mit lebendiger Kreativität produziert, statt
lediglich tote Forschungsobjekte zu sezieren (399-400). Als symptomatisch für
die Decadence seiner Epoche betrachtet N. die Überschätzung des Gelehrtenty-
pus, die mit einer Verkennung der eigentlichen Kulturziele einhergehe (400).
Dem Kulturbegriff seiner Zeitgenossen, den er von ephemeren Moden und fehl-
gesteuerten Interessen bestimmt sieht, stellt N. ein metaphysisch grundiertes
Kulturkonzept gegenüber (401). Verwirklichen soll es eine kleine Schar ,unzeit-
gemäßer' Enthusiasten, die der Verführung durch öffentliche Gratifikationen
heroisch zu widerstehen vermögen. Abseits vom Getriebe des Zeitgeistes be-
schreiten diese vom Ungenügen an sich selbst (385) angetriebenen Idealisten
einen steilen und einsamen Weg, um die Voraussetzungen für die „Geburt des
Genius" zu schaffen (403). Nach N.s Überzeugung soll Schopenhauer zu einem
solchen kulturschöpferischen Engagement erziehen (404) und damit auch zu
bewusster Distanz gegenüber dem Pragmatismus von Gelehrten, Staatsbeam-
ten und Bildungsphilistern (401).
7.
Ein anthropomorphes Naturkonzept bestimmt das 7. Kapitel (404-411): In Op-
position zu teleologischen Deutungen, die von einer zweckmäßigen Organisa-
tion der Natur ausgehen, definiert N. die Natur als ungeschickt, unvernünftig
und verschwenderisch im Umgang mit ihren Mitteln, mit denen sie „gemein-
nützig[e]" Zwecke erreichen ,will'. Damit erklärt er sich das immer bloß zufälli-
ge und vereinzelte Auftreten ,echter' Philosophen und Künstler generell und
speziell das Missverhältnis zwischen der Größe Schopenhauers und seiner zu-
nächst nur sporadischen Rezeption durch die Zeitgenossen. N. selbst erblickt
seine zentrale Aufgabe darin, die Wirkung philosophischer Vorbilder zu för-
dern und die unzeitgemäßen „freien Geister" (407) zu Schopenhauer zu füh-
ren. Es komme darauf an, „die Wiedererzeugung Schopenhauers", also „des
philosophischen Genius", vorzubereiten (407) - trotz der in der Epoche vor-
 
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