36 Schopenhauer als Erzieher
herrschenden Dogmen und politischen Ideologeme und trotz der verbreiteten
Tendenz zu einem naiven Fortschrittsoptimismus, der auch den Bereich der
Bildung mit einschließe.
Dass Schopenhauer selbst nicht der üblichen Sozialisation zum Gelehrten
unterworfen wurde und sich durch die frühen Reisen mit seinem Vater auch
zur Überwindung nationaler Beschränkungen angeregt sah (408-409), be-
trachtet N. als wesentliche Voraussetzungen für die spätere Entwicklung seines
Lehrers. Denn ein philosophischer Selbstdenker suche einen originären Zu-
gang zur Wirklichkeit und begreife sich selbst als „Abbreviatur der ganzen
Welt" (410). Auch in Schopenhauers (von Juvenal stammendem) Wahlspruch
,vitam impendere vero' (411) manifestiert sich nach N.s Überzeugung der We-
sensunterschied zwischen dem starken, freien und integren Genie und dem
Typus des bloßen Gelehrten.
8.
Im 8. Kapitel (411-427) radikalisiert N. seine Kritik an der zeitgenössischen
Universitätsphilosophie. Freiheit nach dem Vorbild der antiken Philosophen
sowie Menschenkenntnis ohne einengende akademische Sozialisation betrach-
tet er auch in seiner eigenen Zeit als wesentliche Voraussetzungen für die Ent-
wicklung des „philosophische[n] Genius" (411). In diesem Sinne kontrastiert er
die großen „Philosophen von Natur" mit den „schlechten Philosophen von
Staatswegen" (413). Hier orientiert sich N. an Schopenhauers Schrift Ueber die
Universitäts-Philosophie (vgl. dazu den Vergleich in Kapitel III.4 des Überblicks-
kommentars). Als Staatsdiener kommen genuine Philosophen nicht in Betracht,
weil sie dann aufgrund ihres Amtes politische Interessen über die Wahrheit
stellen müssten.
Nach N.s Überzeugung liegt das einzige Kriterium zur Bewertung einer Phi-
losophie in der Frage, „ob man nach ihr leben könne" (417). Schon an einer
früheren Stelle betont er die existentielle Bedeutung der Philosophie (350).
Wenn die Universitätsphilosophen ihren Schülern Philosophiegeschichte ver-
mitteln, wühlen sie laut N. als gelehrte „Nach- und Überdenker" (416) bloß
in fremden Meinungen, statt als originelle Selbst-Denker eigene gedankliche
Substanz zu entwickeln. Weil sie sich darauf beschränken, in ihrer Lehre ein
Sammelsurium aus verschiedenen philosophischen Systemen zu präsentieren,
können Philosophiehistoriker in den Köpfen ihrer Schüler nur geistige „Verwil-
derung" hervorrufen (417). Wird die Philosophie gar zum bloßen „Examenge-
spenst" (423) depotenziert, wie N. selbst es später mit einem fiktiven Dialog in
der Götzen-Dämmerung satirisch vorführt (KSA 6, 129-130), so schreckt sie zwar
herrschenden Dogmen und politischen Ideologeme und trotz der verbreiteten
Tendenz zu einem naiven Fortschrittsoptimismus, der auch den Bereich der
Bildung mit einschließe.
Dass Schopenhauer selbst nicht der üblichen Sozialisation zum Gelehrten
unterworfen wurde und sich durch die frühen Reisen mit seinem Vater auch
zur Überwindung nationaler Beschränkungen angeregt sah (408-409), be-
trachtet N. als wesentliche Voraussetzungen für die spätere Entwicklung seines
Lehrers. Denn ein philosophischer Selbstdenker suche einen originären Zu-
gang zur Wirklichkeit und begreife sich selbst als „Abbreviatur der ganzen
Welt" (410). Auch in Schopenhauers (von Juvenal stammendem) Wahlspruch
,vitam impendere vero' (411) manifestiert sich nach N.s Überzeugung der We-
sensunterschied zwischen dem starken, freien und integren Genie und dem
Typus des bloßen Gelehrten.
8.
Im 8. Kapitel (411-427) radikalisiert N. seine Kritik an der zeitgenössischen
Universitätsphilosophie. Freiheit nach dem Vorbild der antiken Philosophen
sowie Menschenkenntnis ohne einengende akademische Sozialisation betrach-
tet er auch in seiner eigenen Zeit als wesentliche Voraussetzungen für die Ent-
wicklung des „philosophische[n] Genius" (411). In diesem Sinne kontrastiert er
die großen „Philosophen von Natur" mit den „schlechten Philosophen von
Staatswegen" (413). Hier orientiert sich N. an Schopenhauers Schrift Ueber die
Universitäts-Philosophie (vgl. dazu den Vergleich in Kapitel III.4 des Überblicks-
kommentars). Als Staatsdiener kommen genuine Philosophen nicht in Betracht,
weil sie dann aufgrund ihres Amtes politische Interessen über die Wahrheit
stellen müssten.
Nach N.s Überzeugung liegt das einzige Kriterium zur Bewertung einer Phi-
losophie in der Frage, „ob man nach ihr leben könne" (417). Schon an einer
früheren Stelle betont er die existentielle Bedeutung der Philosophie (350).
Wenn die Universitätsphilosophen ihren Schülern Philosophiegeschichte ver-
mitteln, wühlen sie laut N. als gelehrte „Nach- und Überdenker" (416) bloß
in fremden Meinungen, statt als originelle Selbst-Denker eigene gedankliche
Substanz zu entwickeln. Weil sie sich darauf beschränken, in ihrer Lehre ein
Sammelsurium aus verschiedenen philosophischen Systemen zu präsentieren,
können Philosophiehistoriker in den Köpfen ihrer Schüler nur geistige „Verwil-
derung" hervorrufen (417). Wird die Philosophie gar zum bloßen „Examenge-
spenst" (423) depotenziert, wie N. selbst es später mit einem fiktiven Dialog in
der Götzen-Dämmerung satirisch vorführt (KSA 6, 129-130), so schreckt sie zwar