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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0065
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38 Schopenhauer als Erzieher

111.6 Die Rezeption von Schopenhauer als Erzieher
Nach dem Eintreffen der gedruckten Schrift teilt Erwin Rohde seinem Freund
N. am 13. Oktober 1874 brieflich mit, er müsse sie, da er sie am 9. des Monats
zunächst nur „durchstürmte, erst noch einmal in Muße durchstudiren", ehe er
sich dazu äußern könne (KGB II 4, Nr. 590, S. 579). Und am 13. Dezember 1874
bekundet Rohde dann, er habe sich bei erneuter Lektüre durch „den ,Schopen-
hauer' [...] erhoben gefühlt, wie von einer großartigen heroischen Musik"
(KGB II 4, Nr. 613, S. 622). - Max Oehler, ein Cousin von N. und seiner Schwes-
ter, der nach deren Tod die Leitung des Nietzsche-Archivs in Weimar über-
nahm, berichtet von einem anonymen Telegramm eines Literaturkenners: Die-
ser griff auf Goethes Faust I zurück, und zwar auf die Replik des Erdgeistes im
Gespräch mit der Faust-Figur (vgl. V. 512-513), um dieses Diktum dann humo-
ristisch an den Autor von UB III SE zu adressieren, der sich darüber sehr amü-
sierte: „Du gleichst dem Geist, den Du begreifst, nicht mir. Schopenhauer" (vgl.
Max Oehler 1927, 117).
N.s Schwester Elisabeth Nietzsche dankt ihrem Bruder am 27. Oktober
1874 mit pathetischem Überschwang für sein „herrliches neues Buch": „Du
Guter Großer, ich habe dabei manchmal weinen müssen: es jammert mich so
das Schicksal von Schopenhauer, endlich spricht einmal Jemand von ihm, der
ihn versteht wie kein Anderer [...]. Ich glaube so wie Du hat noch nie Jemand
über Schopenhauer geschrieben was er Allen lehrt, nie hat es Jemand so emp-
funden diesen ungeheuren Schmerz über den Kampf des Genius in der jämmer-
lichen Menschheit. Mir kommt das Buch schöner als alle anderen vor so ganz
besonders ergreifend und edel! Einem wahren philosophischen Menschen
muß bei Deinen Worten das Herz in heiliger Begeisterung emporflammen"
(KGB II 4, Nr. 601, S. 596).
Und 23 Jahre später inszeniert die (mittlerweile verwitwete) Elisabeth Förs-
ter-Nietzsche im zweiten Band ihrer Biographie Das Leben Friedrich Nietzsche's
(1897) anlässlich von UB III SE sogar eine eigene Aussage mit Zukunftsvision:
„Schon damals sagte ich zu ihm: ,ich weiß nicht genug von Schopenhauer, um
genau zu wissen, ob er wirklich ein solcher Erzieher ist, aber Eines weiß ich
genau, daß Du der darin geschilderte erziehende Philosoph bist.' ,Unsinn' rief
Fritz, ,oder sein wirst', setzte ich hinzu. Er sagte gedankenvoll: ,wer kann das
jetzt wissen, meine Schwester!'" (Förster-Nietzsche 1897, Bd. II/1, 159). Damit
folgt sie N.s nachträglicher Umdeutung der Schrift zum Selbstbekenntnis in
seiner letzten Schaffensphase. Die markante Aussage in Ecce homo, eigentlich
bringe UB III SE ihn selbst, also „Nietzsche als Erzieher", zum Ausdruck
(KSA 6, 320, 30), zitiert sie bezeichnenderweise nur wenig später sehr ausführ-
lich mit ihrem Kontext (vgl. KSA 6, 319, 19 - 321, 6; vgl. dazu Förster-Nietzsche
 
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