Überblickskommentar, Kapitel III.6: Rezeption 39
1897, Bd. II/1, 166-168). In diesem Sinne erklärt sie auch, in UB III SE habe N.
„fast unbewußt sein ganzes Selbst, seine innerlichsten Erfahrungen mit seinem
Herzblut" niedergeschrieben (ebd., 153). Ihre Tendenz zu emphatischer Stilisie-
rung des Bruders, dessen avantgardistischen Rang angeblich bereits die Rezi-
pienten seiner ersten drei Werke (GT, UB I DS, UB II HL) erkannt hätten, geht
ebenfalls aus der Behauptung hervor, sie hätten in ihm schon damals „den
Apostel einer neuen noch nicht bestimmt formulirten Anschauungsweise" er-
blickt (ebd., 142-143). - Wiederholt attestiert Elisabeth Förster-Nietzsche ihrem
Bruder eine auffallende Bescheidenheit: „Besonders rührend war seine Be-
scheidenheit, wenn er sich mit den Personen verglich, die er liebte und verehr-
te: er schuf diese zu unglaublichen Wunderthieren um, während er sich selbst
mit einer ungerechten schonungslosen Kritik betrachtete", so dass „ein voll-
kommenes Mißverhältniß" entstand (ebd., 149). Kontrastiv ergänzt sie dann
eine spätere desillusionierte Feststellung, die N. nach der Distanzierung von
Schopenhauer und dem Bruch mit Wagner mit „leichtem Spott über sich
selbst" (ebd., 149) formulierte: „So begabte Wesen, wie ich sie mir als Genies
vorstellte, haben nie existirt" (NL 1878, 29 [16], KSA 8, 515). Zur problemati-
schen Rolle von Elisabeth Förster-Nietzsche, der Gründerin und Leiterin des
Nietzsche-Archivs, in der Geschichte der N.-Editionen (vor allem durch die be-
rüchtigte Nachlass-Kompilation Der Wille zur Macht) vgl. Katrin Meyer (NH
2000b, 437-440) und David Marc Hoffmann (NH 2000, 440-443). - Für die
zusehends kritische Einstellung N.s zu Schopenhauer gibt es markante Belege,
die im Kapitel III.3 des Überblickskommentars präsentiert werden (vgl. z. B. im
Dezember 1876: KSB 5, Nr. 581, S. 210; vgl. auch KSA 2, 370, 8-17 sowie NL 1878,
27 [80], KSA 8, 500 und KSA 3, 453, 22 - 455, 1).
Cosima Wagner reagiert am 26. Oktober 1874 voll Enthusiasmus auf Scho-
penhauer als Erzieher (KGB II 4, Nr. 599, S. 591-594):
„Diess ist meine Unzeitgemässe, mein werther Freund, und ich danke Ihnen von Herzen
für die freudige Erregung welche mir durch die Lesung derselben geworden ist. Gefühle,
Gedanken, Einfälle Erkenntniss, Können und Wissen haben mich darin Staunen gemacht,
und an dem Begeisterungs-Feuer welches Alles durchglüht, habe ich mich wiederum er-
wärmt, wie an der Geburt der Tragödie. Und wie schön und eigenthümlich ist hier Ihre
Sprache! Man sieht es, hier hatten Sie den conkreten - herrlichen - Gegenstand, welchen
Sie ganz erfassen konnten, und so mächtig Sie ihn erfasst haben, so tief haben Sie mich
ergriffen. Ausserordentlich schön und kunstvoll finde ich Ihre Einleitung - sie gemahnte
jener grossartigen Introductionen, mit welchen die Meister der Musik ihre Allegri einfüh-
ren, und besser, erhabener wirkend, und dadurch für das weitere Lesen schöner stim-
mend, hätten Sie den Namen Schopenhauer's zum ersten Male nicht nennen können, als
nachdem Sie dargestellt hatten was uns die Bildung verleiht. Ich finde es sehr schön dass
Sie darauf persönlich auftreten, denn wie Sie es später richtig bemerken, ist die Wirkung
von Schopenhauer's Genius beinahe eine Absurde zu nennen, und kommt es daher hier
sehr auf das persönliche Zeugniss eines Berufenen an. [...] Aber über alles schön, ja für
1897, Bd. II/1, 166-168). In diesem Sinne erklärt sie auch, in UB III SE habe N.
„fast unbewußt sein ganzes Selbst, seine innerlichsten Erfahrungen mit seinem
Herzblut" niedergeschrieben (ebd., 153). Ihre Tendenz zu emphatischer Stilisie-
rung des Bruders, dessen avantgardistischen Rang angeblich bereits die Rezi-
pienten seiner ersten drei Werke (GT, UB I DS, UB II HL) erkannt hätten, geht
ebenfalls aus der Behauptung hervor, sie hätten in ihm schon damals „den
Apostel einer neuen noch nicht bestimmt formulirten Anschauungsweise" er-
blickt (ebd., 142-143). - Wiederholt attestiert Elisabeth Förster-Nietzsche ihrem
Bruder eine auffallende Bescheidenheit: „Besonders rührend war seine Be-
scheidenheit, wenn er sich mit den Personen verglich, die er liebte und verehr-
te: er schuf diese zu unglaublichen Wunderthieren um, während er sich selbst
mit einer ungerechten schonungslosen Kritik betrachtete", so dass „ein voll-
kommenes Mißverhältniß" entstand (ebd., 149). Kontrastiv ergänzt sie dann
eine spätere desillusionierte Feststellung, die N. nach der Distanzierung von
Schopenhauer und dem Bruch mit Wagner mit „leichtem Spott über sich
selbst" (ebd., 149) formulierte: „So begabte Wesen, wie ich sie mir als Genies
vorstellte, haben nie existirt" (NL 1878, 29 [16], KSA 8, 515). Zur problemati-
schen Rolle von Elisabeth Förster-Nietzsche, der Gründerin und Leiterin des
Nietzsche-Archivs, in der Geschichte der N.-Editionen (vor allem durch die be-
rüchtigte Nachlass-Kompilation Der Wille zur Macht) vgl. Katrin Meyer (NH
2000b, 437-440) und David Marc Hoffmann (NH 2000, 440-443). - Für die
zusehends kritische Einstellung N.s zu Schopenhauer gibt es markante Belege,
die im Kapitel III.3 des Überblickskommentars präsentiert werden (vgl. z. B. im
Dezember 1876: KSB 5, Nr. 581, S. 210; vgl. auch KSA 2, 370, 8-17 sowie NL 1878,
27 [80], KSA 8, 500 und KSA 3, 453, 22 - 455, 1).
Cosima Wagner reagiert am 26. Oktober 1874 voll Enthusiasmus auf Scho-
penhauer als Erzieher (KGB II 4, Nr. 599, S. 591-594):
„Diess ist meine Unzeitgemässe, mein werther Freund, und ich danke Ihnen von Herzen
für die freudige Erregung welche mir durch die Lesung derselben geworden ist. Gefühle,
Gedanken, Einfälle Erkenntniss, Können und Wissen haben mich darin Staunen gemacht,
und an dem Begeisterungs-Feuer welches Alles durchglüht, habe ich mich wiederum er-
wärmt, wie an der Geburt der Tragödie. Und wie schön und eigenthümlich ist hier Ihre
Sprache! Man sieht es, hier hatten Sie den conkreten - herrlichen - Gegenstand, welchen
Sie ganz erfassen konnten, und so mächtig Sie ihn erfasst haben, so tief haben Sie mich
ergriffen. Ausserordentlich schön und kunstvoll finde ich Ihre Einleitung - sie gemahnte
jener grossartigen Introductionen, mit welchen die Meister der Musik ihre Allegri einfüh-
ren, und besser, erhabener wirkend, und dadurch für das weitere Lesen schöner stim-
mend, hätten Sie den Namen Schopenhauer's zum ersten Male nicht nennen können, als
nachdem Sie dargestellt hatten was uns die Bildung verleiht. Ich finde es sehr schön dass
Sie darauf persönlich auftreten, denn wie Sie es später richtig bemerken, ist die Wirkung
von Schopenhauer's Genius beinahe eine Absurde zu nennen, und kommt es daher hier
sehr auf das persönliche Zeugniss eines Berufenen an. [...] Aber über alles schön, ja für