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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0071
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44 Schopenhauer als Erzieher

Ganz anders äußert sich Theodor Lessing, wenn er sechs Jahre nach N.s
Tod in seinem Buch Schopenhauer, Wagner, Nietzsche. Einführung in moderne
deutsche Philosophie mit Bezug auf UB III SE und UB IV WB summarisch fest-
stellt: „Niemals hat ein Jünger würdiger und ehrenvoller seinen Meistern ge-
dankt" (Lessing 1906, 272). Anschließend schreibt er über Schopenhauer als
Erzieher: „Wir erfahren in dem Buch über Schopenhauer zwar so gut wie nichts
von seinem Leben und sehr wenig Sachliches über seine Philosophie, aber das
Charaktergemälde, das Bild des Höchsten und Stärksten in Schopenhauers
Seele ersteht in einem suggestiven, unmittelbar packenden Stil, der wie Sturm
dahinbraust, in wundersamer Prägnanz" (ebd., 272).
Bereits zwölf Jahre früher veröffentlichte Lou Andreas-Salome 1894 ihr
Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Ihrer Darstellung zufolge hat N.
UB III SE und UB IV WB zwei „Unzeitgemäßen" als „Vorzeitgemäßen und Zu-
kunftgemäßen" gewidmet (Andreas-Salome 1894, 69). In diesen „mit überströ-
mender Begeisterung aufgerichteten Standbildern des Genius" werde evident,
inwiefern die von N. intendierte „Kultur des Unzeitgemäßen in einem Kultus
des Genies" konsequenterweise ihren Zenit erreiche (ebd., 69). Den heroischen
Geistesaristokratismus N.s und seine Vorstellung des „großen Einsamen" be-
zeichnet Lou Andreas-Salome als einen der „Schopenhauerschen Grundgedan-
ken", die N. von UB III SE an bis zum Spätwerk „nie wieder losgelassen haben"
(ebd., 69). Gerade angesichts des Transzendenzverlusts und der Zerstörung des
metaphysischen Fundaments in N.s weiterer philosophischer Entwicklung sei
allein „der Einzelne" dazu imstande, der „Geschichte [...] einen Sinn zu ge-
ben", weil er deren „Quintessenz" repräsentiere (ebd., 71). Da „die Wagner-
Schopenhauersche Weltanschauung" für N. von so essentieller Bedeutung war,
habe er sich später sogar „von ganz entgegengesetzten Richtungen" aus wieder
„ihren Grundgedanken" angenähert (ebd., 72). Lou Andreas-Salome attestiert
den Frühschriften N.s ein spezifisches Fluidum: „etwas Gesundes, beinahe
Naives, das von der Eigenart seiner späteren Werke scharf absticht. Es ist, als
sähe man ihn erst an dem Bilde seines Meisters Wagner und an dessen Philoso-
phen Schopenhauer sich selbst begreifen und erraten" (ebd., 73).
Die Mitteilungen von Lou Andreas-Salome über N. zählt der damals bereits
berühmte dänische Literaturkritiker und Philosoph Georg Brandes zu den
„lehrreichsten" Äußerungen über N. (Brandes 2004, 103). In der ersten seiner
Kopenhagener Vorlesungen über N., die zur Rezeption von dessen CEuvre maß-
geblich beitrugen, propagierte Brandes 1888 eine Züchtung unzeitgemäßer
,Geistesaristokraten'. Analogien zwischen den Überzeugungen von Brandes
und N. sind in mehrfacher Hinsicht zu erkennen: Vor allem in unkonventionel-
len Freigeist-Vorstellungen und im elitären Individualismus zeichnen sich
Übereinstimmungen ab. In UB III SE erklärt N. zu Beginn des 6. Kapitels: „die
 
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